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Textprobe:

 

Antigone in Berlin

1852

 

Hier vor den Toren der Stadt hörte Malwida die Geräusche der Pferdedroschken und der Soldaten nur schwach. Auch der Gesang der Nachtigallen konnte die Stille der hier Ruhenden nicht stören. In diesem Hain war sie allein mit den Toten. ‚Gestorben im Kampf für die Freiheit des Volkes’, stand dort eingemeißelt auf einem Denkmal für die Märzgefallenen von 1848. Sie setzte sich neben eines der Gräber und schaute zu, wie die Sonne über der preußischen Hauptstadt unterging.     

Nur langsam ordnete sich das Chaos in ihrer Brust, das der Besuch ihres Bruders ausgelöst hatte. Der schneidende Schmerz drängte ihr immer wieder Tränen in die Augen, die sich wie ein Schleier auf ihre verletzte Seele legten. Mit weiblicher Demut zurück in den Schoß der Familie? Verordnetes Denken? Das ging nicht mehr, auch nicht der Mutter zuliebe. Sie war es inzwischen gewöhnt eigene Überzeugungen zu haben. Und die stimmten nicht mit dem überein, was die Herrschenden und ihre Familie sich vorstellten. Bestätigung fand sie bei ihren demokratischen Freunden. Und immer wieder las sie die griechischen Tragödien, vor allem Antigone, die allen Gefahren zum Trotz ihrer inneren Stimme folgend unerschrocken ihren Weg geht. Aber das würde er niemals verstehen, ihr Bruder, ein Absolutist. ‚Du bist krank, Malwida, das erklärt deine Irrwege ... Wenn du etwas brauchst ...’  Großzügige Geste von ihm. Wenn es nur so einfach wäre! Nein, das brauchte sie nicht, diese Hilfe anzunehmen käme einem Verrat an sich selbst gleich. Theodor, ja, der fehlte ihr mit seinem klaren Verstand, aber der lag genauso stumm in seinem Grab wie die Toten hier.

Plötzlich kam es ihr vor, als wäre sie nicht allein. War ihr jemand gefolgt? Es war nur ein kurzer Schreck. Zwei junge Menschen standen in einiger Entfernung, blickten zu ihr hinüber. Als sie sich entdeckt sahen, wandten sie sich zum Weggehen. Malwida ging auf sie zu. Die beiden blieben stehen und der Mann begann ein Gespräch.

„Verzeihen Sie, wenn wir Ihre Betrachtungen gestört haben. Wir haben Sie lange angesehen, wie Sie da so traurig und gedankenvoll saßen. Sie müssen eine von uns sein.“

Die junge Frau hakte sich bei ihrem Verlobten ein und nickte zu seinen Worten.

„Wenn die Arbeit uns mal ein Stündchen Zeit lässt, kommen wir hierher zu den Gräbern unserer Freunde aus der Fabrik.“

„Wie Recht Sie haben, das zu tun“, sagte Malwida und es war ihr, als hätte der Zufall ihr diese beiden Menschen zur Ermutigung geschickt. „Ja, auch ich war schon einige Male hier auf dem Hügel und konnte mich in der stillen Anwesenheit der Toten erholen.“

 „Sie haben das Wertvollste gegeben …“

„… und doch haben sie selbst nach vier Jahren noch nicht den verdienten Lohn errungen. Wir müssen weiterkämpfen, gegen das Joch der Bevormundung und Unterdrückung. Eine freie Presse brauchen wir.“

„Und den Handwerkerverein“, sagte der junge Mann. „Seitdem der verboten ist, werden wir förmlich in die Schenke getrieben, anstatt in ordentlichen Versammlungen die wirklichen Interessen des Volkes zu wahren und unsere Zukunft in Freiheit zu schmieden.“

Mit einem herzlichen Händedruck verabschiedete sich Malwida von dem jungen Paar. Getröstet und gefestigt in ihren Grundsätzen verließ sie die Gedenkstätte und kehrte zurück in das abendliche Treiben der großen Stadt.

 

Anna saß in ihrem Salon und schien auf sie zu warten. Ihre Freundin hatte sich sicherlich Sorgen gemacht, als sie nach der lautstarken Auseinandersetzung mit ihrem Bruder in großer Erregung ausgegangen war. Malwida setzte sich zu ihr.

„Verzeih mir, dass ich ohne Worte das Haus verlassen habe. Du hast eine solche Behandlung nicht verdient. Ich weiß ja gar nicht, wie ich dir für deine Gastfreundschaft danken soll“, begann sie.

„Das habe ich schon verstanden. Was immer zwischen dir und deinem Bruder geredet wurde, ich stehe zu dir.“

„Weißt du, ich musste einfach alleine sein, in Ruhe nachdenken. Mir ist einiges klar geworden.“

Als sie aufblickte, sah Anna, dass sie geweint hatte.

„ In den vergangenen Wochen habe ich nicht nur Theodor begraben müssen …“

Malwidas Augen füllten sich wieder mit Tränen. Anna setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander.

„Drei Jahre Festungshaft, nicht einmal dreißig Jahre alt, das war zuviel. Er war so sicher in allen seinen Ideen, so zuversichtlich. Und mein Bruder gehört zu den anderen, zu den Verfolgern. Eine unüberwindliche Kluft zwischen mir und meiner Familie … Und ich musste noch viel mehr begraben, Anna, meine Arbeit an der Hochschule in Hamburg. Wie soll ich wieder unabhängig werden? Alles, was ich tu, ist den Regierenden ein Dorn im Auge. Womit soll ich Geld verdienen? Artikel für Zeitungen? Was ich denke, darf ich ja gar nicht schreiben. Selbst Kindergärten werden geschlossen, weil sie Angst haben, dass demokratische Ideen verbreitet werden, hast du es gelesen?“

„Ja, es sieht nicht gut aus für demokratisch denkende Menschen in diesem Land und vor allem für uns Frauen. Wir müssen auf bessere Zeiten hoffen. Zeiten, in denen wieder die Vernunft siegt, freies Reden und Schreiben möglich ist.“

„Aber wie lange denn noch?“

 

An diesen warmen Maitagen ging Malwida oft am Nachmittag hinaus zum Spaziergang auf die beliebteste Promenade der Stadt, Unter den Linden. Zwischen prächtigen Bauten und feinen Läden flanierten die gut gekleideten Damen der Gesellschaft, in deren Mitte ihr Bruder sie gerne sehen würde. An diesem Tage hatte Anna gebeten sie zu begleiten.

„Malwida, ich weiß, dass du noch nicht ganz wieder bei Kräften bist, aber ...“

„Was denn?“

„Heute waren zwei Männer an der Wohnungstür, in bürgerlicher Kleidung zwar, aber Charlotte hat sie als Polizeidiener erkannt. Sie haben nach dir gefragt, wollten wissen, was du in dem Hause machst, welche Besuche du empfängst und so weiter.“

„Wie kommen sie auf mich, Anna?“

„Dein Artikel in der demokratischen Zeitung?“

„Über Antigone und die Freiheit dem eigenen Gewissen zu folgen? Meinst du, das war zu mutig?“

„Vielleicht die Bemerkung über die Tyrannei, die sich feige hinter Gesetzen versteckt?“

 „Aber der Aufsatz erschien doch schon vor einigen Wochen.“

„Stimmt. Nur irgendwie müssen sie auf dich aufmerksam geworden sein. Sag mal, dein Bruder ist doch Gesandter der Regierung.“

„Nein, Anna, das würde er mir nicht antun“, entgegnete Malwida entrüstet.

„Bist du sicher?“

„Du hast Recht“, entgegnete sie nach einigem Nachdenken, „ich muss mir selbst eingestehen, dass ich nach dem Besuch meines Bruders eine Bedrohung spüre, die ich bis dahin nicht kannte.“

„Aber ch habe doch nichts Unrechtes getan.“

„Hatte Theodor etwas Unrechtes getan? Es reicht schon, wenn sie dich der demokratischen Gesinnung verdächtigen. Sie werden wiederkommen.“

 „Sag, Anna, was ist das für ein Land, in dem wir leben?“ 

 

Schon am nächsten Tag klopfte es an Malwidas Zimmertür. Sie saß an ihrem Schreibtisch und schrieb gerade einen Brief an Julius Fröbel in Amerika, einem guten Freund und Kollegen von der Hamburger Hochschule für Frauen.

„Ein Herr wünscht Sie zu sprechen“, sagte Charlotte.

Ehe Malwida antworten konnte, stand ein fremder Mann hinter ihrem Stuhl. Sie schob rasch ein Buch auf das beschriebene Papier und stand auf.

„Was führt sie zu mir?“, fragte sie ruhig.

„Ich habe Auftrag vom Chef der Polizeibehörde ihre Papiere zu durchsuchen und sie vor das Polizeiamt zu laden.“

„Was liegt denn gegen mich vor?“, ihre Stimme klang zittrig.

„Ich führe nur Weisungen aus“, sagte er und nahm ihren angefangenen Brief sowie die anderen Aufzeichnungen an sich. Malwida fühlte sich zutiefst verletzt angesichts dieses Eingriffs in ihre intimsten Gefühle und Gedanken. Aber nicht genug damit, nach und nach leerte er die Schubladen ihres Schreibtisches und packte alle Papiere und Briefe, auch die von Theodor, in eine Ledertasche. Dann forderte er sie auf in ihrem Zimmer zu bleiben, da er noch ein Gespräch allein mit Charlotte führen wollte. In einer Stunde hätte sie sich im Polizeiamt einzufinden.

 

Sie musste sich durch einige Stuben durchfragen, um zu dem Herrn zu gelangen, zu dem sie geladen war. Hinter ihrem Rücken wurde getuschelt und gefeixt, das hörte sie ganz deutlich.

Der Beamte bat sie auf dem Sofa Platz zu nehmen, das volle Licht des Fensters auf sie gerichtet. Er selbst setzte sich auf einen Stuhl und blickte auf sie herab. Das war wohl Absicht, aber er würde in ihrem Gesicht keine Schuld finden.

„Es tut mir außerordentlich leid, eine derartige Maßregel gegen ein Mitglied einer hoch geachteten Familie aussprechen zu müssen“, begann er.

‚Warum macht er es dann?’, dachte Malwida. Sie konnte aber ihre Geringschätzung gegenüber dem Beamten verbergen und sah ihn schweigend an.

„Wie kam es dazu, dass eine Tochter aus hoch gestelltem Hause sich so weit von den Ansichten ihrer Familie entfernte?“

„Glauben sie nicht, dass auch Frauen eigene Gedanken und Überzeugungen haben können?“, fragte sie und blickte ihm fest in die Augen dabei.

Der Beamte zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf.

Nach kurzem Schweigen setzte er seine Vernehmung in förmlichem Ton fort.

„Stehen sie in Verbindung mit der Emigration in London?“

„Ich habe regelmäßig Briefverbindung mit meinen Freunden.“

 „Sie wissen, dass diese Leute des Hochverrats beschuldigt werden?“

„Ich bin über alles informiert.“

Seine Ratlosigkeit schien sich angesichts Malwidas klarer Aussagen zu steigern.

 „Mit welchen Personen haben sie Umgang in dieser Stadt?“

„Mit meiner Freundin, ihren Verwandten und Bekannten.“

„Nicht mit Mitarbeitern von gewissen Zeitungen?“

„Mit einem Herrn.“

„Wie heißt der Herr?“

„Den Namen habe ich vergessen.“

Erkannte er jetzt, dass kein Schuldbekenntnis zu erwarten war?

Aber er gab nicht auf.

„Sind sie sich des Vertrauens ihrer Freunde ganz sicher?“

Malwida horchte auf.

„Ich habe Veranlassung Ihnen mitzuteilen, dass wir bei einem Gespräch in dem Haus, in dem sie zur Zeit wohnen, andere Erkenntnisse gewonnen haben.“

Welch ungeheuerliche Behauptung. Zum ersten Mal während dieses Verhörs wurde sie unsicher. Aber es gelang ihr, nach außen ruhig zu bleiben.

„Das glaube ich nicht“, antwortete sie schlicht. Und je länger sie darüber nachdachte, desto mehr war sie überzeugt, dass er ein Spielchen mit ihr trieb. Es konnte nicht sein, dass Charlotte, mit der sie vertrauensvoll über die Schicksalsschläge der vergangenen Wochen geredet hatte, sie auf diese Weise verriet.

„Das glauben sie nicht?“, sagte er mit sichtlicher Genugtuung, weil er merkte, dass er Malwida getroffen hatte. „Es gibt manches, das sie sich nicht vorstellen können. Sie sind auf dem falschen Weg. Kehren sie um, bevor es zu spät ist.“

„Zu spät, wofür? Ich bin auf dem richtigen Weg.“ Sie durfte jetzt nicht schwach werden.

„Meine Liebe, ich muss sie warnen. Ihre Papiere sind nicht dazu angetan sie zu entlasten, das war selbst beim flüchtigen Lesen ersichtlich. Der Inhalt ihrer Aufzeichnungen und der Briefe wird noch genauer zu prüfen sein.“

Damit war Malwidas größte Hoffnung zunichte, nach ihrer Vernehmung ihre beschlagnahmten Schriften, Tagebücher und Briefe ausgehändigt zu bekommen. Sie hatte jetzt Mühe, ihre Haltung zu bewahren, es wurde eng in ihrer Brust.

„Nicht wahr, die dicke bürokratische Luft hier ist erstickend“, sagte der Beamte, als könne er Gedanken lesen. Und bei dieser Bemerkung erschrak Malwida bis ins Mark, denn das waren ihre ureigenen Worte, die sie kürzlich in einem versiegelten Brief an einen Freund in Hamburg geschrieben hatte.

Als sie das Gebäude verließ, hatte sie das Bedürfnis, sofort von der Straße zu verschwinden, sie fühlte sich von allen Seiten beobachtet. Schnell sprang sie in eine Droschke.

 

Anna und Charlotte warteten schon aufgeregt auf ihre Mitbewohnerin, denn Hausdurchsuchung und Vorladung ins Polizeipräsidium hatten nichts Gutes zu bedeuten. Sie atmeten erleichtert auf, als sie endlich hereinkam, immer noch außer Atem. Anna umarmte sie fest, so froh war sie, dass man sie nicht verhaftet hatte. Es dauerte eine Weile, bis Malwida sprechen konnte. In stockenden Sätzen erzählte sie den Ablauf der Vernehmung.

„Ein Schuldbekenntnis gibt es von mir nicht“, sagte sie zum Schluss wie zur Beruhigung.

„Du kennst die Leute von der preußische Geheimpolizei nicht“, entgegnete Anna. „Die brauchen kein Schuldbekenntnis. Sie haben alle deine Papiere. Da werden sie schon etwas finden, das dich ins Gefängnis bringt. Denk an Theodor.“

„Ich werde ihnen meine Unschuld beweisen“, sagte Malwida.

„Das interessiert niemanden, ich sehe dich in höchster Gefahr.“

„Anna, ich werde diese Stadt verlassen, aber …“

„Selbst, wenn du dich im Recht fühlst, du bist bereits von Spitzeln umgeben. Du darfst keine Zeit verlieren. Sofort musst du die Stadt verlassen. Heute noch. Flüchte zu deinen Freunden nach London.“

„Und meine Papiere auf dem Polizeiamt, meine intimsten Gedanken und die Briefe von Theodor? Das kann ich doch nicht hier zurücklassen.“

„Das musst du tun. Lass das nur meine Sorge sein. Du nimmst nur einen Reisesack mit den wichtigsten Utensilien mit. Alles andere schicke ich dir nach.“

„Wovon soll ich in London leben? Meine Ersparnisse werden durch die Schiffsüberfahrt verbraucht sein.“

„Was hast du denn in Hamburg gemacht? Du kannst dich mit Erziehungs- und Übersetzungsarbeit über Wasser halten. Die Freunde in England lassen dich nicht im Stich, das weißt du auch.“

 

Die Mitbewohner halfen ihr beim Packen und regelten alles für die Eisenbahnfahrt nach Hamburg, von wo aus sie mit dem Schiff nach England übersetzen sollte. 

Bei Anbruch der Dämmerung verließ sie die Wohnung zusammen mit Annas Vetter. Wie ein Pärchen mischten sie sich zwischen die Spaziergänger auf der belebten Promenade und verschwanden in der Menge. Dann bogen sie in eine leere Seitenstraße ein und versicherten sich, dass niemand ihnen folgte.

Die Nacht verbrachte sie bei eingeweihten Freunden in einer ruhigen Gegend von Berlin, von wo sie der Vetter am nächsten Morgen mit einer offenen Droschke wie zu einer Spazierfahrt abholte und zum Hamburger Bahnhof brachte.

Im Gepäck hatte sie die griechischen Tragödien, das Buch, das  ihr in den schweren Wochen immer wieder Mut gemacht hatte. Antigone folgt ihrer inneren Stimme, jedoch bis in den bitteren Tod. Malwida wollte leben.

 

©Renate Hupfeld 05/2004

 

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