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"Ein geschundenes Volk"
WA-GESPRÄCH In Afghanistan sind Zehntausende auf der Flucht vor einem Vergeltungsschlag der Amerikaner. Sechs Millionen Menschen sind vom Hungertod bedroht. Katastrophale Lage

"Wir haben mit einer Krise begonnen"

HAMM • Zehntausende von Afghanen sind auf der Flucht vor einem drohenden Vergeltungsschlag der USA, Verzweiflung und Chaos herrschen im Inneren des Landes. Erste Hoffnung keimt auf, als die Taliban den vermeintlichen "Drahtzieher" der Attentate, Osama Bin Laden, auffordern, das Land zu verlassen (inzwischen ist bekannt, dass sie ihm weiter Gastrecht gewähren). Über die Lage in Afghanistan und über die Arbeit des Hammer Forums in Kabul sprach WA-Mitarbeiterin Marion Siebert mit Belal El-Mogaddedi, Projektleiter des Hammer Forums, dessen Familie aus Afghanistan stammt.

Wie schätzen Sie die Situation in Afghanistan im Moment ein?

Mogaddedi: Die ganze Situation ist äußerst schwierig, man kann auch schlecht Vorhersagen treffen. Ich möchte nicht in der Haut der Entscheidungsträger stecken. Die große Sorge, die ich habe, ist die, dass, wenn es zu einem Krieg kommt, die Menschen getroffen werden, die am wenigsten zu der ganzen Situation können, nämlich die Zivilbevölkerung. Sie hat überhaupt keine Möglichkeit des Selbstschutzes mehr, sie kann das Land nicht mehr verlassen und hat auch nicht mehr die Möglichkeit innerhalb des Landes Zuflucht zu finden. Das Land ist, bedingt durch einen 20-jährigen Krieg und Bürgerkrieg, vollkommen am Boden.

Was wollen die Amerikaner in Afghanistan noch zerstören? Bilder in den Medien zeigen, dass sowieso alles kaputt ist?

Mogaddedi: Ich würde keiner Regierung abnehmen, die sich an einem möglichen Einsatz beteiligt, wenn sie sagt: 'Wir greifen strategische Ziele an': Es gibt keine strategischen Ziele mehr, es sei denn man sagt, jeder Afghane ist ein strategisches Ziel. Man kann vielleicht verstehen, dass hier eine Reaktion einer Großmacht erforderlich ist, die in ihren Grundfesten erschüttert worden ist. Afghanistan ist ja einer breiten Öffentlichkeit nicht unbekannt, es ist ein Land das in den letzten Jahren immer wieder im Focus der Medien stand. Der durchschnittliche Beobachter ist sehr wohl darüber informiert, dass in Afghanistan keine Struktur mehr vorhanden ist, die eine derartige Gewaltmaßnahme erfordert. Es handelt sich um ein Volk, das vor Hunger am Boden liegt. Es kann einfach nicht rechtens sein, bei aller berechtigter Emotionalität und auch Bereitschaft zu reagieren, auf dieses so geschundene Volk einzuschlagen.

Verschärfend kommt dazu, dass sich alle Hilfsorganisationen inzwischen aus Afghanistan zurückgezogen haben. Wie sieht die Lage beim Hammer Forum aus?

Mogaddedi: Wir haben ja, wie auch bekannt ist, seit 1997 ein Projekt vor Ort. Wir haben eine orthopädische, unfallchirurgische Station im Kinderkrankenhaus von Kabul, die wir mit großem Erfolg führen. Dieses Projekt gibt pro Jahr 1 000 bis 1 300 Kindern die Möglichkeit der operativen, chirurgischen Versorgung. Wir haben begonnen mit einer Krise - wir gründeten uns mit der Irak-Krise und heute in unserem zehnten Jahr sind wir wieder mit einer Krise konfrontiert, dem drohenden Krieg in Afghanistan und müssen überlegen, wie reagieren wir auf die möglichen Opfer, die dort anfallen. Es schließt sich vielleicht dort ein Kreis, erschütternd für uns, aber es ist nun mal Realität. Zehn Jahre Hammer Forum bedeutet auch fast 1 000 Kinder, versorgt hier in Deutschland. Aus den unterschiedlichsten Ländern haben wir Kinder nach Deutschland gebracht und wenn man diese Zahl -

1 000 Kinder in Deutschland - den beeindruckenden Zahlen von bis zu 1 300 Kindern gegenüberstellt, die wir in einem Jahr in Afghanistan behandelt haben, dann ist es umso schmerzlicher, dass wir dieses Projekt wegen der gegebenen Umstände jetzt einstellen mussten.

Was bedeutet das konkret. Die Gebäude sind ja da, aber die Mitarbeiter wurden abgezogen?

Mogaddedi: Natürlich. Es ist eine Einstellung insofern, als wir den deutschen Projektleiter haben abziehen müssen. Die Arbeit läuft weiter, sie wird von afghanischen Ärzten und Pflegern weitergeführt, die Station und auch das Krankenhaus sind nicht geschlossen. Nach den letzten Informationen, die uns vorliegen - wir haben noch Kontakt mit unserem afghanischen Verwaltungsmitarbeiter - scheint es auch einigermaßen vernünftig weiterzulaufen. Nur, man darf nicht vergessen: Dieses Projekt ist nur zustande gekommen, weil sich eine ausländische Hilfsorganisation eingeschaltet hat. Es ist nur deshalb am Leben geblieben, weil die ausländische Hilfsorganisation dabei geblieben ist und bis zum heutigen Tage die Sache finanziert und mit Verbrauchsmaterialien versorgt, und organisatorisch begleitet.

Finanzieren könnte man weiter, wie auch immer. Aber organisatorisch und materiell wird es schwierig, weil ja auch kein ausländischer Spediteur mehr ins Land fahren will. Was können Sie machen?

Mogaddedi: Das sind eben die zwei Punkte, die uns große Sorgen bereiten, denn je länger diese Zwangspause dauert, je länger sich auch Projektleiter Dr. Kemmer in Pakistan, wo er zurzeit nahe der Grenze ist, aufhalten muss, ist die Gefahr groß, dass das Projekt auch an Qualität verliert. Wir haben lange gebraucht, um Qualität in dieses Projekt hereinzubekommen, wir haben auch lange gebraucht, um ein Minimum an Qualität zu halten.

Wird das Projekt von der Regierung anerkannt?

Mogaddedi: Es gibt ganz genaue Vereinbarungen, die wir getroffen haben. Man kann in Afghanistan nicht im luftleeren Raum operieren, man muss schon mit den dortigen Gesundheitsbehörden zusammenarbeiten. Das ist uns eigentlich auch sehr gut gelungen. Wir haben eine sehr konstruktive Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium der Taliban und auch mit den anderen Behörden gerade in diesem medizinischen Bereich. Vielleicht ist das auch Ausdruck der Schätzung unserer eigenen Arbeit durch die Taliban, vielleicht sehen sie auch, dass wir es mit unserer Arbeit ehrlich meinen. Wir sind ja eine unpolitische Organisation, wir sind humanitär orientiert, diesen Grundsatz haben wir konsequent in Afghanistan durchgeführt, so dass wir vielleicht gerade deswegen auch eine gewisse Akzeptanz und Schutz erfahren haben.

Wird der Projektleiter bis auf Weiteres in Pakistan bleiben?

Mogaddedi: Zunächst ja.

Wieviel Mitarbeiter waren vom Hammer Forum von der Evakuierung aus Afghanistan betroffen?

Mogaddedi: Nur Dr. Kemmer. Aber es war ja geplant, dass am vergangenen Montag eine Ärztegruppe nach Kabul fliegt, die Dr. Kemmer in seiner Arbeit unterstützt. Dr. Kemmer ist Orthopäde, aber es gibt auch immer wieder Fälle, wo Spezialisten gebraucht werden. Das ist ja unsere Stärke, dass wir immer wieder Ärzte dafür gewinnen können, ihren Jahresurlaub in unserer Klinik in Kabul zu verbringen, so dass wir kontinuierlich immer eine deutsche Fachkraft vor Ort haben. Aber in regelmäßigen Abständen von zwei oder drei Monaten kommt Unterstützung von weiteren deutschen Experten.

Gab es eine offizielle Anweisung auszureisen?

Mogaddedi: Es gab die offizielle Anweisung des Auswärtigen Amtes in Berlin an alle Helfer der ausländischen Hilfsorganisationen, das Land aus Sicherheitsgründen zu verlassen.

Kommen wir noch einmal auf die Menschen zurück. Wie kann man eigentlich in solch einem zerstörten Land leben?

Mogaddedi: Äußerst schwierig. Ich glaube, das kann man in Deutschland sehr gut nachempfinden. Es gibt Vergleiche, die in den letzten Tagen immer wieder gezogen worden sind, zwischen Kabul und Dresden nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Erfahrungen, die die Deutschen nach dem Krieg nur für eine überschaubare Zeit gemacht haben, sind identisch mit dem Leid, das die Afghanen in den letzten 20 Jahren erfahren mussten. Ich selbst, der ich oft nach Afghanistan gereist bin, habe nie nachvollziehen können, wie die Menschen es schaffen, überhaupt unter solchen Bedingungen zu leben. Wir können kaum verstehen, wie der, der in Afghanistan lebt und überhaupt Arbeit hat, mit dem Geld, das er bekommt, existieren kann.

Gibt es denn überhaupt die notwendigsten Grundnahrungsmittel?

Mogaddedi: Früher konnte man vieles auffangen, durch begrenzten Im- und Export. Aber jetzt seit zwei Jahren gibt es eine Dürre. Die letzten Zahlen, die mir vorliegen, sagen, dass sechs Millionen Menschen vom Hungertod bedroht sind, bei einer Einwohnerzahl von 18 Millionen Menschen. Es ist ein Unding, dass sich Menschen heute von Tierfutter und Gras ernähren müssen. Das wird sich verschlimmern durch eine Kriegssituation. Für mich würden die USA Stärke zeigen, wenn sie sagen, wir verschonen das Volk, wenn Bin Laden geht.

Wie wird es mit dem Hammer Forum weitergehen in Afghanistan?

Mogaddedi: Wir sind nicht in der Lage politisch Einfluss zu nehmen. Wir helfen keinem politischen System, wir waren vor den Taliban in Afghanistan, wir waren während der Taliban-Regierung dort, wir wissen nicht was morgen ist. Wir werden unser Projekt fortsetzen, wenn es die Situation erlaubt. Unsere Zielgruppe sind immer die Kinder gewesen, sie werden immer die schwächsten Opfer sein. Wir können den Kindern eine Chance geben, ihnen zeigen, dass es noch Menschen gibt, die sich um sie kümmern und ihnen das sonst so kurze Leben verlängern helfen. Die Menschen in Afghanistan brauchen Hilfe aus dem Ausland, aus eigener Kraft können sie nicht wieder hochkommen. Ich hatte mir immer gewünscht, dass nach 1992 - nach dem Abzug der Sowjetarmee - die Weltgemeinschaft gesagt hätte, jetzt müssen wir diesem geschundenen Land Afghanistan helfen, aber soweit ist es leider in all den Jahren nie gekommen.

[22.09.2001]

 

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Humanitäre medizinische Hilfe für Kinder in Kriegs- und Krisengebieten