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Neues
Projekt
Hat mich jemals etwas so
durcheinander gebracht wie die Botschaft, dass du da bist? Zum ersten
Mal in meinem Leben bin ich ratlos, vierzig Jahre alt und ratlos. Ich
weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.
Du oder er? Eine Frage, auf die ich gut verzichten könnte, die
vielleicht völlig abwegig ist und längst beantwortet wäre für mich,
sollte sie sich denn stellen. Und dennoch fühle ich mich jetzt in der
Situation, dass ich mich das fragen muss, ohne es zu wollen, ohne es
jetzt zu wollen, schicksalhaft mit dem Dilemma konfrontiert.
Du oder er?
Es war ein ausgesprochener Glückstag, als ich ihm begegnete, ein
unerwarteter Lichtblick, nachdem das Thema ‚Männer’ für mich längst
abgehakt war. Männer! Ich war nämlich davon überzeugt, sie nützten
nicht, sondern schadeten mir nur. Kurz gesagt, ich brauchte sie nicht
und war überzeugt, es käme keiner mehr an mich heran. Das klingt hart,
doch nach meinen Erfahrungen musste ich das so sehen. Männer in meiner
Nähe bedeuteten jedes Mal eine Katastrophe. Misstrauen, Kampf,
Verletzungen. Immer das gleiche Theater, wie verhext.
Macht gar nichts, wenn du das noch nicht verstehst. Wie solltest du
auch?
Jedenfalls hatte ich irgendwann mein Motto klar: ‚Keine Männer, keine
Tränen’.
Und dann kam er, wie ein Geschenk des Zufalls, und mit ihm die
Erleuchtung, dass ich mich wohl geirrt hatte. Es gab Ausnahmen,
zumindest diese eine, das musste ich mir eingestehen. Denn mit ihm
erfuhr ich, dass es auch anders ging, mit Vertrauen und Liebe. Und, wie
gesagt, dieses Glück kam völlig überraschend. Plötzlich stand er mir
gegenüber und fragte: „Was machen wir jetzt?“
Jetzt, das war der Moment, an dem die meisten aus unserem kleinen
Grüppchen ihre Skier auf die Autos gepackt hatten und abgereist waren,
zu ihren Klausuren, an ihren Schreibtisch im Büro oder zu ihrer Arbeit
in Haus und Küche. Alle waren unterwegs nach Hause, außer uns zweien.
Wir waren übrig geblieben und standen nun auf unseren Brettern am Platz
neben dem Ausstieg, wo wir uns tags zuvor noch mit den anderen
versammelt hatten, bevor es auf die Piste ging. Jetzt nur wir zwei. Er
und ich. Wir hatten noch einen Tag Zeit, einen ganzen Tag. ‚Was machen
wir jetzt?’ Was für eine Frage! Wir waren doch schon oben angekommen, an
der höchsten Stelle, von der wir die beste Aussicht über das ganze
Winterland hatten. So bizarr die Farben und Formen, so schroff und so
sanft. In der einen Richtung der felsige Lange, daneben der etwas
kleinere Bruder und zwischen den beiden eine Scharte, die Jahr für Jahr
einigen waghalsigen Skifreaks zum Verhängnis wurde, und zur anderen
Seite hin der Blick auf die schneebedeckte Passstraße mit dem gemütlich
rauchenden Schornstein auf dem Rasthaus, an dem hin und wieder ein Auto
anhielt oder ein anderes mehr oder weniger schleichend vorüberfuhr. Und
ganz rechts der Blick hinunter über steile und sanfte Skihänge bis zum
Wald und darüber hinaus auf die weißen Dächer rund um den Kirchturm des
kleinen Ortes.
Wir begannen die Abfahrt, machten erste verhaltene Schwünge, immer
wieder aufeinander achtend, mit fast ungläubigen Blicken nach jedem
Hügel, so ungewohnt, nur wir zwei auf der Piste, auf der wir bisher
immer zu mehreren gewesen waren. Der Weg führte uns in Serpentinen durch
den Wald hinunter in den Ort, vorbei an der kleinen Kirche zum Einstieg
etwas oberhalb, von dem uns ein Sessel auf die nächste Passhöhe brachte.
Eng nebeneinander saßen wir und berührten uns zaghaft mit den Skiern, er
mit dem rechten, ich mit dem linken, hin und wieder ein Blick, als
könnten wir es immer noch nicht begreifen. Oben angekommen, eine kurze
Abstimmung und gleich wieder hinunter, mal er hinter mir, mal ich hinter
ihm, Kurve um Kurve, Strecke für Strecke, Ort für Ort, Sessellift,
Passhöhe, immer weiter, hoch und runter, durch die steinerne Stadt zu
Füßen des felsigen Langen und des kleinen Bruders, vorbei an der Scharte
der Waghalsigen. Wie schön das war, nur er und ich über vier Pässe und
durch vier Täler, bis wir schließlich dort ankamen, wo wir einige
Stunden zuvor gestartet waren.
Ich erzähle dir das, um dir klarzumachen, dass mit dir jetzt alles
anders ist und damit du verstehst, was das für mich bedeutet und warum
ich ihn nicht verlieren will, warum ich mich fragen muss: Du oder er?
Am Abend dann in dem Haus oben am Berg, in dem wir tags zuvor mit so
vielen am Tisch saßen, jetzt nur wir zwei. Spagetti Bolognese hatten wir
in die Schüsseln gezaubert, dazu Parmiggiano. Nach dem Essen hörten wir
Musik. Meine Lieblingssongs mochte er, ich seine ebenfalls. Wir lachten
und tanzten, auseinander zusammen, auseinander zusammen, stundenlang.
Dann holte er seine Gitarre hervor. Ein Stück gefiel mir besonders. Ich
wollte es noch einmal hören. Er spielte es noch einmal. Immer wieder
spielte er diese Melodie. Sie begleitete mich die ganze Nacht lang und
am nächsten Morgen war sie immer noch da. Und am Tag darauf, in der
nächsten Nacht, die ganze Zeit war sie bei uns. Er und ich und unsere
Melodie.
Drei Monate haben wir nun schon diese ungestörte Zweisamkeit, jeden
Samstag, jeden Sonntag, viele Abende und Nächte. Zusammen einkaufen,
kochen, essen, Musik hören, tanzen, bummeln in Fußgängerzonen, durch
Wälder und Parks, meine Hand in seiner Hand, reden über schwarze Löcher
und ‚Rosen im Asphalt’.
Unser nächstes gemeinsames Projekt sollte eine Wanderung in unserem
Winterparadies sein, jedoch ohne Schnee. Für diesen Sommer war es
geplant und sogar schon in den Details vorbereitet. Mit Rucksack und
Zelt wollten wir unterwegs sein, den schroffen Langen, seinen kleinen
Bruder und die Scharte der Waghalsigen mal aus der Nähe betrachten,
durch die steinerne Stadt gehen und dann weiter, Berge und Täler
durchwandern, zu Fuß das Massiv umrunden. Unser Sommerprojekt nennen wir
das, nannten wir das, hatten es uns so schön vorgestellt. Und nun
knallst du in unser Leben, bist plötzlich da und bleibst auch da, hast
dich schon eingenistet, als sei das ganz selbstverständlich. Niemals
hätte ich damit gerechnet, dass du kommst. Vierzig Jahre lang hat mich
nichts so aus der Bahn geworfen. Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen,
zu unruhig war ich, viel zu unruhig. Wie soll es weitergehen? Mit dir
dabei ist nichts mehr wie vorher. Tag und Nacht bist du nun dabei. Nie
mehr bin ich allein. Nie mehr sind wir zu zweit, er und ich. Wie wird er
reagieren, wenn er es erfährt? Mein lieber Träumer. So jung und
unverbraucht. Bisher hat ihm das Leben noch keine solche Verantwortung
aufgebürdet. Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, wie sich das
anfühlt, wenn er plötzlich so gefordert wird wie mit dir. Er soll sich
nicht verändern, soll immer der liebe Träumer bleiben. Doch ich
befürchte fast, dass das nicht geht. Aus der Traum. Was wird er sagen?
Über die Möglichkeit, du könntest dazukommen, haben wir nie gesprochen.
Vielleicht hätten wir es noch getan. Irgendwann wäre es vielleicht ein
Thema gewesen. Und nun bist du schon da. Konntest nicht mehr warten. Ich
habe Angst, dass sein helles Gesicht sich verfinstert und dass jetzt
alles vorbei ist.
Vorhin hat er angerufen. Er war so lieb, kommt heute schon etwas früher,
hat es extra möglich gemacht, freut sich auf mich. Am Telefon konnte ich
es ihm nicht sagen. Es ging einfach nicht. In seine Fröhlichkeit wollte
ich nicht hineinplatzen mit dieser Botschaft. Ich weiß ja selbst erst
seit gestern, dass du da bist. Was ich empfand, als ich es erfuhr? Das
sollst du auf jeden Fall wissen. Mein Herz hüpfte, als wollte es aus der
Brust springen. Und wenn ich in mich hineinhorche, ist es heute immer
noch so. Ja, mein Bauch sagt etwas anderes als mein Kopf. Ein tolles
warmes Gefühl habe ich, spüre intensiv, dass du da bist. Angenehm süß
die leichte Übelkeit. Ein paar Millimeter groß bist du erst, doch dein
Herz schlägt schon. Ein gerade erst begonnenes Leben, ein ganz kleines
Leben, ein winziges Leben. Dein Leben. Dein Herzschlag. Was meinst du?
Ich soll noch mal überlegen, warum die Frage: Du oder er? Das ist ja
eine ganz neue Sichtweise. Gar kein Dilemma? Darüber habe ich noch gar
nicht nachgedacht. Recht hast du. Warum eigentlich diese dumme Frage?
Zumal sie ja für mich ohnehin längst beantwortet wäre, sollte sie sich
denn so stellen, was ja gar nicht der Fall ist. Du oder er? Was soll
überhaupt das ‚oder’? Ich werde es gegen ein ‚und’ austauschen. Du und
er, muss es heißen. Noch besser: Du und er und ich.
Je mehr ich nun darüber nachdenke, desto mehr gewöhne ich mich an den
Gedanken. Du und er und ich. Wir sind jetzt drei. Ja, das werde ich ihm
sagen. Und er muss wissen, dass jetzt alles ein bisschen anders wird,
vor allem, dass ich höllisch aufpassen muss auf dich, damit dir nichts
passiert. Das ist wichtiger als alles andere im Moment. Nichts werde ich
tun, was dich in Gefahr bringen könnte. Deshalb werden wir das
Sommerprojekt streichen müssen. Eine Wanderung in den Bergen wäre nichts
für dich, viel zu gefährlich. Du musst erst noch ganz doll wachsen, bis
du groß und stark genug bist für diese Welt. Im nächsten Sommer nehmen
wir dich dann mit zum felsigen Langen. Der blinzelt seinem kleinen
Bruder zu, ohne dass es jemand sieht, und die beiden Unentwegten
amüsieren sich still. Dein Vater hat anstatt Rucksack dann dich in der
Trage auf dem Rücken und zu dritt wandern wir ein kleines Stück entlang
der Scharte der Waghalsigen und durch die steinerne Stadt.
Gleich wird er hereinkommen und sich auf seinen Platz im Sofa setzen. Da
bleibt nur noch eine Frage: Wie sag ich es ihm? Am besten besorge ich
uns erst einmal einen Pott Kaffee aus der Küche. Dann setze ich mich
neben ihn und schaue ihn an. Sein helles Gesicht strahlt. ‚Was machen
wir jetzt?’, fragen seine Augen. Meine Antwort kannst du dir schon
vorstellen: ‚Wir haben ein winziges neues Projekt’, werde ich sagen.
Bild und Text: ©Renate Hupfeld
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