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Ausweg
Renate
Hupfeld
Der
Regionalexpress fährt pünktlich.
Winterlandschaft fliegt vorbei.
Schneeflocken tanzen.
Dächer weißgepudert.
Wäldchen mit blätterlosen Bäumen.
Blasse Sonne will sich durch das Himmelsgrau kämpfen.
Grüner Kirchturm.
Schneeberge mit sanft gewellten Konturen.
Kleiner Bahnhof.
Es ist nicht weit zu laufen bis zur evangelischen Akademie im Park.
An der Rezeption gibt es ein Informationsblatt für den Ablauf der Tagung.
Ich bin spät dran, deshalb eile ich gleich zum Raum dreizehn. Der Moderator
begrüßt mich mit einem freundlichen Blick, schaut in seine Liste, stellt
sich als Dozent der Uni Dortmund vor und bittet die Teilnehmer, etwas zu
sich und den Erwartungen an die Veranstaltung zu sagen.
Dann war ich wohl die Letzte, muss mich aber jetzt als erste vorstellen.
Auch gut.
„Rosie Schoppmann aus Castrop Rauxel, Lehrerin mit Schwerpunkt Literatur.
Ich hoffe, dem Autor näher zu kommen, das heißt, ihn besser zu
verstehen.“
Der Moderator nickt und weist mit dem Kopf auf den Herrn neben mir, ein
Geschichtslehrer im Ruhestand, der seine Frau mitgebracht hat. Es folgen
eine Frau aus Süddeutschland, eine Deutschlehrerin in der Oberstufe, ein
pensionierter Gymnasiallehrer, der seinen Stock unter den Stuhl gelegt hat,
und einige Studenten der Uni Dortmund. Etwa zwanzig Teilnehmer mögen es
sein.
Den Text haben alle gelesen. Ein Varietékünstler hält einen Vortrag über
seine Verwandlung vom Affen zum Menschen. Er versucht auf sein äffisches
Vorleben zurückzublicken, was ihm jedoch angesichts der Schwierigkeiten in
der Menschenwelt zunehmend schlechter gelingt.
Die Diskussion nimmt ihren Lauf. Von Assimilation, Dekadenz und Apokalypse
ist die Rede. Lange wird über das Leeren der Schnapsflasche geredet,
sozusagen als Beginn der Assimilation. Jeder profiliert sich so gut er kann.
Die Deutschlehrerin mit dem zarten Stimmchen will unbedingt mithalten. Am
besten gelingt das jedoch den Studenten. Ich versuche es erst gar nicht,
erkenne ich doch schon bald, dass dieser Austausch mich auch nicht
weiterbringt.
Irgendwo piepst ein Hörgerät, ich kann es nicht orten und schaue hinaus.
Schnee auf den Tannenbäumen. Glitzerteilchen wirbeln vom Dachvorsprung vor
dem Fenster und ein Sonnenstreifen leuchtet auf dem Teppichboden in der
Mitte des Kreises, wandert langsam weiter und liegt jetzt auf dem Gesicht
eines Teilnehmers. Ich beobachte, wie er unaufhaltsam weiterzieht und kann
mir ausrechnen, dass er irgendwann mein Gesicht erreicht. Bloß nicht. Ich
kapiere ohnehin schon lange nicht mehr, worum es geht und frage mich: Was
ist normal, was ist Wahnsinn? Deshalb schlage ich mein Textbuch auf, ohne zu
lesen, und hoffe, dass der Streifen an mir vorüberzieht.
Auf die Frage des Moderators nach dem Aktualitätsbezug des Textes antwortet
die Frau aus Süddeutschland: „Die Frage isch net beantwortet.“
Dabei ist das doch ganz klar: Heutzutage würde der Protagonist des Meisters
womöglich als virtuelles Phantom mit einem Nicknamen, sagen wir mal „Odradek“,
durch einen virtuellen Bau irren. Da wäre kein Ausweg, es müsste ihn sich
aber verschaffen. Ein Fragment also, das passt doch.
Der Glitzerwirbel vor dem Fenster ist verschwunden. Draußen ist es dunkel
geworden. In der schwarzen Scheibe sehe ich mein Gesicht und erkenne, dass
mich dieses Seminar doch ein kleines Stück weitergebracht hat. Zumindest
kann ich anfangen, auf mein äffisches Vorleben zurückzublicken.
©Renate Hupfeld
Kommentare
an:
renatehupfeld(at)gmail.com
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