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Marathon Hopping

Renate Hupfeld

Keine Metropole gibt sich so naiv gleichgültig wie New York City, keine nimmt mich so selbstverständlich auf, als sei ich nie woanders gewesen, und in keiner anderen fühle ich gleichzeitig so viel Distanz und so viel Nähe. Wer könnte noch Vorbehalte gegen diese Stadt haben, wenn sie ihn einmal in ihren Bann gezogen hat? Oft habe ich mich gefragt, ob es Zufälle gibt. Inzwischen bin ich mir sicher, dass alles, was geschieht, einer unsichtbaren Ordnung folgt. So war es auch kein Zufall, dass mir gerade in dieser Stadt ein Mensch über den Weg lief, der mir einmal mehr bedeutet hatte als alles andere auf der Welt. Und jeden Tag sage ich mir, wie sinnvoll es war, trotz eines gewissen Risikos, ich könnte Sarah auf der Zielgeraden des New York City Marathons verpassen, an diesem grauen Morgen des ersten November gegen acht Uhr vom Hotel am Beekman Place in Upper Midtown Manhattan zur 42. Straße zu laufen, mit der U6 vom Grand Central Terminal bis zur City Hall zu fahren, von dort den Fußweg über die Brooklyn Bridge und auf der anderen Seite des East River den Weg durch den Park zu nehmen, in dem die Leute aus der Umgebung morgens ihre Hunde ausführen. Es war auch kein Zufall, dass ich an der U-Bahn-Station Court Street stehen blieb, den Stadtplan auffaltete und überlegte, wie ich zum ersten Treffpunkt gelangen könnte, den ich mit meiner Tochter vereinbart hatte, um ihr bei ihrem Lauf zuzuschauen und sie zu fotografieren. Hätte sie Aaron jemals kennen gelernt, wenn mich nicht an jenem Sonntag am Eingang eben dieser Station in Brooklyn ein Mann mit Hund angesprochen hätte?

„Kann ich helfen?“, fragte er.
„Ich bin auf dem Weg zur Marathonstrecke, dem 8-Meilen-Punkt in der vierten Avenue. An welcher Station muss ich aussteigen?“
„Ah, ein Marathon Fan“, sagte der Mann. „Dahin können Sie gut laufen. Sie gehen geradeaus bis zur Atlantic Avenue, biegen links ab, dann ist es ungefähr noch eine Meile.“
„Und wie komme ich später dann möglichst zügig zur Queensboro Bridge? Da will ich nämlich als nächstes an die Strecke.“
„Subway, direkt von dort hinüber nach Manhattan, am besten mit der Expressbahn, sonst schaffen Sie es am Ende nicht rechtzeitig. Die Läufer haben ja bekanntlich ein ziemliches Tempo.“
„Ja, ja.“
„Ich weiß ja nicht, wie schnell Ihr Favorit ist.“
„Ziemlich flott auf den Beinen. Am besten mache ich es, wie Sie mir raten. Dann will ich mal los.“

Obwohl ich mich bedankt und einen schönen Tag gewünscht hatte, ging der Mann neben mir und redete weiter.
„Fans an der Strecke sind wichtig, wenn man diese gewaltige Distanz schaffen will. Ich vermute mal, Ihr Mann läuft mit und er freut sich über Ihre Unterstützung.“
„Meine Tochter ist dabei. Sie hat sich einen ganz großen Wunsch erfüllt, zum Schulabschluss.“
„Oh, ist sie da nicht ein bisschen jung für so einen Lauf?“
„Achtzehn, das Mindestalter für die Teilnahme.“
„Halb so alt wie ich und schon so entschlossen, ein großes Ziel zu erreichen.“
Seltsame Gedanken hatte dieser Mensch. Wie lange wollte er noch neben mir gehen? Sein Hund trippelte schon ungeduldig vor meinen Füßen herum und hopste hin und wieder an meinen Beinen hoch.
„Sorry.“
„Ist okay. Ich hatte auch mal so einen quirligen Vierbeiner. Der sah Ihrem sogar ähnlich.“
„Jetzt haben Sie keinen mehr?“
„Nein.“
„Und Kinder? Nur die Tochter?“
Obwohl seine Fragerei mich nervte, fand ich ihn nicht unsympathisch. Das Lächeln in seinen Augen gefiel mir, so ein ganz helles Lächeln war das, mir irgendwie vertraut. Was sollte ich ihm antworten?
„Nur Sarah“, sagte ich und eigentlich stimmte das ja auch. Wozu schmerzvolle Erinnerungen hochwühlen, die mehr als zwanzig Jahre zurücklagen? Gekämpft, verloren, geweint, neu begonnen, niemals vergessen. Wen interessierte das?
Ich wollte nun schnellstens zu unserem Treffpunkt. Nass und kalt sei es am Start auf Staten Island, hatte Sarah in der SMS geschrieben. Gerade kam eine weitere auf meinem Handy an. Ich zog es aus der Jackentasche und öffnete die Nachricht.
‚Bin in der Startaufstellung. Wir werden jetzt auf die Verrazano-Brücke gebracht. Kann nix mehr schiefgehen. New York, New York…’
Der berühmte Sinatra Song. Mich beruhigte jetzt vor allem, dass sie endlich in Bewegung kam. Schließlich war sie seit dem frühen Morgen unterwegs und sicherlich total durchgefroren.
„Sie läuft jetzt los“, sagte ich.
„Ja, klar. Dort an der Ecke nach links und, wie gesagt, immer geradeaus, dann sehen Sie schon einen Turm und die Absperrung.“
„Danke, ich muss mich jetzt beeilen.“
„Einen Moment noch“, sagte er. „Ich werde nachher an der Strecke ein paar Fotos für die Zeitung machen. Vielleicht haben Sie Interesse. Hier, nehmen Sie mein Kärtchen.“
Ich steckte es in die Jackentasche.
„Noch etwas! Hätten Sie vielleicht eine Adresse für mich?“
Ein paar Visitenkarten mussten noch im Portemonnaie sein, ein wenig angestoßen, aber egal.
„Danke und viel Erfolg, auch beim Marathon Hopping“, sagte er noch und verschwand mit seinem Hund in der Seitenstraße.

Marathon Hopping! Nie gehört! Jedenfalls hatte er mich gut beraten. Neben dem Turm fand ich einen prima Platz mit freiem Blick auf die vierte Avenue. Da wurden schon einige Rollstuhlfahrer gefeiert. Liegeräder fuhren durch und kurz darauf rannten die ersten Läuferinnen und Läufer aus der Spitzenliga vorbei. Auf Sarah musste ich noch ein wenig warten. Dann entdeckte ich sie in einer größeren Gruppe, ein blondes Girl mit Pferdeschwanz in blauem Trikot. Sie lachte kurz in die Kamera und war auch schon wieder weg. Ja, meine Tochter, ein besonderes Kind, immer vorne mit dabei! Ob sie das Tempo durchhalten würde? Ein knappes Drittel der Strecke hatte sie hinter sich, es konnte noch eng werden. Auch für mich gab es nun eine beachtliche Distanz zu überwinden, von Brooklyn nach Upper Manhattan. Für die Musikband „Steel Wolf“ und zum Schlange stehen bei „Dunkin’ Donuts“ blieb keine Zeit, ich wollte rechtzeitig am 16-Meilen-Punkt sein. Also keine Musik und kein Kaffee, sondern gleich weiter, mich anderen Marathon Hoppern anschließen, in die U4 treiben lassen, an der Lexington Avenue / Ecke 59. Straße aussteigen, von dort laufen zur First Avenue, diese nach Polizeianweisungen überqueren, unten an der Brücke einen wackligen Platz in der dritten Reihe finden und Ausschau halten zwischen hunderten von Läufern, die dicht beieinander von der Queensboro Bridge herunter in die Kurve rannten. Wo blieb Sarah? Etwa schon vorbei? Nicht aufgeben, sagte ich mir, und erspähte sie dann auch, fast ein bisschen zu spät, doch für Fotos reichte es gerade noch. Kein Blickkontakt. Wie sollte sie mich auch in der Zuschauermenge entdecken, zumal ich mein „Go, Sarah, go!“-Schild nicht hochhalten durfte? Verständlich, auch die hinter mir Stehenden wollten ihre Favoriten sehen und fotografieren. Zehn Meilen hatten die Läufer noch vor sich, zur Bronx und zurück, nicht viel bei diesem Tempo. Inzwischen verstand ich noch besser, warum der Mann in Brooklyn mir zur Eile geraten hatte, und lief sofort los. Schließlich hatte ich ja auch noch ein paar Meilen vor mir. Je näher ich dem Central Park kam, umso heftiger wurde das Gedränge und Geschiebe, zumal ich weiträumige Absperrungen umlaufen musste und vor jeder Straßenüberquerung von Polizisten angehalten wurde.
Nach etlichen Umwegen ergatterte ich ein winziges Plätzchen an der Zielgeraden in unvorstellbarer Enge. Jetzt noch zwischen wehenden Fahnen einen Blick auf die Strecke erwischen. Und da sah ich wieder die Läuferschlange an mir vorbeiziehen. So viele Gesichter, alte, junge, abgekämpfte, fröhliche, mehr oder weniger verschwitzte. Hunderte von Trikots in allen Farben. Den meisten Läufern sah man die 26 Meilen wirklich nicht an. Meine Stimmung schwankte zwischen der Freude, nun in unmittelbarer Nähe dieses Events im Central Park dabei zu sein und der Sorge, Sarah wäre vielleicht schon längst im Ziel. Dann endlich wieder eine Nachricht. Ich brauchte ich die Ellenbogen, um das Handy aus der Jackentasche zu fummeln. Alles klar. Noch eine Meile. Fotoapparat bereithalten und sie ein paar Minuten später in ihrem blauen Trikot hinter zwei weißen und inmitten einiger gelber und roter entdecken. Wieder kein Blickkontakt, doch Sarahs Lauf war glücklich beendet.
Sie hatte ein großes Ziel erreicht. Eigentlich nicht zu überbieten. Wer hätte gedacht, dass das Highlight des Tages uns noch bevorstand? Hätte ich ahnen können, dass meine Begegnung mit dem jungen Mann, der mich einige Stunden zuvor ein Stück weit begleitet hatte, eine so unglaubliche Überraschung nach sich zog?

Während ich am Eingang des Naturkundemuseums auf eine Nachricht von meiner Tochter wartete, hielt ich plötzlich zusammen mit dem Handy die Visitenkarte meines Helfers in Brooklyn in der Hand. Ich las und traute meinen Augen nicht. Das konnte nicht sein! Oder doch? Ich setzte mich auf eine Treppenstufe, las noch einmal. Aaron. Kein Zweifel. Der Mann mit Hund war Aaron. Sollte ich das jetzt begreifen? Das war fast zuviel für mich. Wie ferngesteuert wählte ich seine Nummer. Mir war, als hätte er schon auf meinen Anruf gewartet. Mein Herz schlug heftig, es hüpfte geradezu. Ja, wir haben zu reden, sehr viel zu reden, möglichst bald, sofort, ja, möglichst sofort, fürchterlich hektisch gerade hier, sechzehn Uhr, ja, ja, sechzehn Uhr ist gut, Bar im Beekman Tower, 26. Stock.
Sarah kam angehumpelt. Ohne auf meine Umarmung zu warten, legte sie sich auf die Stufe und packte ihre Beine auf meine Knie.
„Geschafft“, stöhnte sie. „Mir tun die Füße weh.“
„Kein Wunder“, sagte ich.
Doch die Blasen an ihren Füßen mussten warten. Ich konnte nicht anders, musste es ihr gleich sagen.
„Sarah, da ist was. Ich weiß gar nicht, wie ich es dir sagen soll. Stell dir vor, wir haben nachher ein Date“, begann ich.
„Hey, Mama. In welchem Film bist du denn? Mir tun alle Knochen weh und du redest von Date.“
„Es ist so verrückt, dass man es sich gar nicht vorstellen kann.“
„Komm zum Punkt. Wovon redest du?“
„Wir haben doppelten Grund zum Feiern. Heute Vormittag ist mir jemand begegnet, der sich mit uns zusammen freuen will.“
„Wie finde ich das denn? Nur weil wir gerade in einer Wahnsinnsstadt den Wahnsinn erleben, musst du doch nicht verrücktspielen. Ist wohl alles ein bisschen viel für dich. Vielleicht bin ich erst mal kaputt und will vielleicht meine Verabredungen selber machen?“
„Du hast ja recht, Sarah. Aber es ist ganz anders, als du es dir vorstellen kannst. Eine Geschichte aus meiner Vergangenheit, also vor deiner Zeit. Ich hatte jemanden verloren und habe ihn wieder gefunden. Ausgerechnet heute habe ich ihn wiedergefunden.“
„Einen Verflossenen etwa? Sag jetzt nicht dein Ex.“
„Nein, nein. Wo denkst du hin? Das wär’s ja noch!“
„Wer dann?“
„Du kennst ihn von Fotos und vom Erzählen.“
„Wen meinst du?“
„Von den ersten fünfzehn Jahren seines Lebens hab ich dir ganz viel erzählt. Du wolltest alles genau wissen, jede Einzelheit. Denk mal an den kleinen Jungen auf dem Foto, den du immer so süß fandest.“
„Erzähle das, wem du willst. Wer soll das glauben? Rosie aus Hamm in Westfalen begegnet in einer Millionenstadt zufällig ihrem seit zwanzig Jahren verschollenen Sohn und ausgerechnet am Tag des New York City Marathons, ausgerechnet am großen Tag ihrer Tochter. Hollywood lässt grüßen.“
„Ja, es ist wie im Film. Ein Drehbuchautor hätte sich das nicht verrückter ausdenken können. Und doch ist es Realität. So unglaublich es klingt.“
„Mama! Deine Wunschträume.“
„Du glaubst mir also nicht? Dann schau selbst, hier.“
Ich reichte ihr die Visitenkarte, die ich die ganze Zeit wie einen Schatz in der Hand gehalten hatte.
„Aaron! Tatsächlich.“
Sie sprang auf und rannte hin und her.
„Dein Bruder. Inzwischen ist mein kleiner Sohn ein Mann. Ich habe ihn nicht erkannt, als er mir heute Vormittag den Weg erklärte. Doch er muss mich erkannt haben, denn er hat mich ein ganzes Stück begleitet und bevor wir uns verabschiedeten, hat er darauf bestanden, dass wir Adressen austauschen. Und als ich jetzt hier auf einen Anruf von dir wartete, hatte ich plötzlich sein Kärtchen in der Hand.“
 „Aaron Buttenbender, Foto und Design.“
‚Foto und Design. Das passt zu ihm’, dachte ich.
„Atlantic Avenue. Wo ist die denn?“, wollte Sarah wissen.
„In der Nähe der U-Bahn-Station Court Street, da, wo wir gestern ausgestiegen sind, vor unserer Wanderung über die Brooklyn Bridge.“
„Wohnt er auch in Brooklyn?“
„Ich denke schon, er war nämlich mit seinem Hund unterwegs. Doch nachher können wir ihn das selbst fragen. Das und noch vieles mehr.“
Sie konnte sich gar nicht beruhigen und schaute immer wieder auf Aarons Visitenkarte.
„Und das soll jetzt zufällig so passiert sein? Nicht wirklich, oder?“
„Die besten Geschichten schreibt ja bekanntlich das Leben.“
„Also dein verlorener Sohn ist hier in New York aufgetaucht. Kein Wunder, dass du ihn nicht gefunden hast all die Jahre. Das ist ja in der Tat ein ungeheurer Zufall“, sagte sie kopfschüttelnd. „Kann ein langer Tag werden.“
„Vielleicht sogar eine lange Nacht“, sagte ich.
„Wo und wann treffen wir uns mit Aaron?“
„In unserem Hotel, Sarah, oben in der Bar. Ich dachte, das leisten wir uns heute mal. Ein paar Stunden haben wir noch. Zum Beine hochlegen, Duschen und schick machen reicht es allemal.“
„Okay, Mama, ich hab's kapiert. Seit heute habe ich einen Bruder und bin kleine Schwester. Dann pack mal die Blasenpflaster aus und verarzte meine Füße, damit wir loswandern können. Was für ein Tag!“

 

 

 ©Renate Hupfeld

Kommentare an:

 renatehupfeld(at)gmail.com

 

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01.07.2010

 

 
 

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