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Facetten des Blues
Auf
dem Weg über den Parkplatz flatterten mir die Blätter um die Beine, schön
bunt, doch gar nicht lustig, verbesserten meine Laune keinesfalls. Die war nämlich
grauer als grau. Dunkelstgrau. Der Blues. Ja, das war er, ließ sich nicht
abschütteln. Andere hatten wenigstens um diese Jahreszeit einen Dämon, ich
hatte nur diesen Blues in allen möglichen Facetten, musste jetzt womöglich
wieder wochenlang mit ihm herumlaufen, mal dem
Wetter-Geht-Mir-Auf-Den-Keks-Blues, dann dem Ist-alles-nicht-mehr-wie-früher-Blues
und eben in diesem Moment mit dem Erinnere-mich-nicht-an-den-Tanz-Blues.
Niemandem hatte ich die Gruselstory erzählt, mir würde sie ohnehin niemand
glauben. Wie ich nur so dusselig sein konnte und dieser Ausgeburt von
Raffinesse auf den Leim gehen, der Frau, die überhaupt nicht tanzen konnte
und wie ein hölzernes Gerät über die Fläche geschoben, gezogen und
gezerrt werden musste, selbst beim allereinfachsten Blues. Dieses Tanzgerät
entpuppte sich als hinterlistiges Miststück, wollte mir weismachen, mich
aus einem früheren Leben zu kennen, erzählte mir was von einem weißen
Schimmel, den ich abends unter einer Weide am Fluss abgeholt hätte und auf
dem ich fortgeritten wäre und behauptete, am Ende der Straße zu wohnen.
Dort war jedoch kein Haus, wie ich eigentlich hätte wissen müssen, ich
Depp. Und mir war es noch immer ein Rätsel, mit welchen Mitteln sie es
geschafft hatte, mich an der Nase herumzuführen. Also, am Ende der Straße
war nämlich der Friedhof. Dahin hatte sie mich gelockt, mitten in der
Nacht. Naiv, wie ich war, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, auf
das Gräberfeld zu schleichen, natürlich bei Vollmond, versteht sich. Über
der Leichenhalle stand der und warf einen riesigen Schatten auf den Weg
zwischen den Bäumen. Und da! Ich traute meinen Augen nicht. Vor dem Portal
wartete schon ebendiese Bluestanzfrau auf mich, fixierte mich mit saugendem
blauem Blick und schwebte auf mich zu. Wahnsinnig verlockend sah sie aus in
dem sachte wehenden, silbrigglänzenden Gewand. Ihr Lächeln war hinreißend.
„Da bist du ja endlich“, flüsterte sie. „Wie ich mich nach dir
gesehnt habe!“
Ein kalter Hauch berührte mich, als sie die Hände nach mir ausstreckte.
„Warum bist du hier?“, stotterte ich.
„Deinetwegen.“
Ich verstand nichts mehr.
„Von weit her bin ich gekommen.“
„Aber wir haben doch gerade erst miteinander ...“
„Ja, ja“, hauchte sie. „Es war so schön.“
„Ich verstehe nicht.“
„Lass uns fliegen.“
„Wie das denn?“
Mir wurde schwummerig. Wäre ich doch niemals hierher gekommen, auf diesen
Gottesacker!
„Fliegen. Nur wir zwei“, fuhr sie fort.
„Du bist doch tot, sonst könntest du nicht … sonst wärest du nicht
hier.“
Oder doch? Mich schauderte. Ich wollte weglaufen, kam aber nicht von der
Stelle.
„Ich sehne mich nach deiner Wärme.“
Ganz leise war ihre Stimme.
„Umarme mich.“
Ich ging einen Schritt zurück.
„Drück mich an deinen Körper, bitte“, flehte sie und kam näher.
„Ich kann nicht.“
„Doch, du kannst.“
„Lass mich gehen!“, wehrte ich ab.
„Warum willst du vor mir fliehen?“
„Ich bin noch nicht so weit.“
„Begreife doch, mein Liebling.“
„Was soll ich begreifen?“
„Ich will dich nicht hinüberziehen. Du kommst freiwillig.“
„Nein, es geht nicht.“
„Wir werden glücklich sein.“
„Nein!“
„Lieben will ich dich, damit du nicht mehr traurig bist.“
„Was meinst du?“
„Nur ab und zu. Dann bin ich auch nicht mehr traurig.“
„Nein, nein. Ich muss jetzt gehen.“
Ich tastete mich rückwärts. Voller Sehnsucht sah sie mich an, folgte mir
mit ausgestreckten Armen und ihrem unwiderstehlichen Lächeln. Je schneller
ich mich fortbewegte, desto näher kam sie. Ich wagte nicht, mich
wegzudrehen und ging Schritt für Schritt weiter, so schnell ich konnte, bis
mein pochender Schädel an etwas Hartes stieß.
Das Friedhofstor.
‚Das verdammte Weib aus jener Sommernacht verfolgt mich doch noch
immer’, dachte ich.
Dabei kannte ich die Bluestanzfrau inzwischen ganz anders. Vom Esoteriktrip
hatte ich sie heruntergeholt und sie hatte mir beigebracht, wie ich auch mit
einer unbegabten Tänzerin Blues tanzen konnte.
Ich ging durch die Blätterallee, den Weg zwischen den Gräberreihen, den
meine Beine schon fast automatisch machten, mit oder ohne die gelbe Gießkanne,
denn gelb mochte sie, die üblichen grünen lehnte sie ab. Heute bei dem
useligen Wetter also ohne Gießkanne. Am Wasserbecken vorbei nach links,
drei Gräber weiter, dann wieder nach links zum weißen Marmorgrabstein mit
dem Bild, oval gerahmt, wie sie es gewünscht hatte, nach ihren Vorgaben über
dem dunkelgrauen Schriftzug platziert. Ja, die weißhaarige Frau da auf dem
Foto war sie, wie sie leibte und lebte, hatte ja nur noch mich, ihren
Augenstern, so nannte sie mich oft, das Beste, was ihr in ihrem Leben
passieren konnte, das Allerbeste, ihr Eins und Alles. Ihr Lächeln sollte
mir erhalten bleiben, ein Lächeln, das nie vergehen würde. Nur für mich.
Unwiderstehlich.
„Wie läufst du denn wieder herum, Junge? Ohne Jacke. Du wirst dich erkälten.
Zieh dich beim nächsten Mal warm an. Denk auch an den Schal. Du weißt
doch, die kalte Jahreszeit hat’s in sich.“
„Ja, Mama.“
„Und deine Haare. Wie das aussieht! Geh mal wieder zum Frisör.“
„Jaha.“
„Gegessen hast du auch noch nichts. Ich sehe es dir doch an. Wie oft muss
ich dir das noch sagen? Du treibst Raubbau mit deiner Gesundheit. Kein Gramm
zugenommen hast du seit dem letzten Mal, eher sogar abgenommen, so blass,
wie du wieder bist. Wann wirst du denn endlich erwachsen?“
Ich hatte ausgiebig gefrühstückt, mit Lachs, Käse, Schinken, Gürkchen,
Tomaten, Radieschen und einem traumhaften Müsli. Nicht allein. Und das würde
ich jetzt immer so machen. Immer so, wie ich das wollte. Genau so. Doch das
musste ich ihr ja nicht erzählen.
„Schau, Mama, heute zünde ich drei Kerzen für dich an, damit du dich
freust, okay?“
Sie blieb stumm.
„Dann bis zum nächsten Mal, Mama.“
Auf dem Weg zum Auto wurde der Grablichterblues in meinem Kopf immer leiser,
bis er gar nicht mehr zu hören war.
©Renate Hupfeld
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renatehupfeld(at)gmail.com
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