|
Er ist grün
„Bei dir ist es immer so schön, Oma. Darf ich in deinen
Schrank gucken?“
„Du bist ja schon dabei, kleine Schmeichlerin.“
„Vielleicht finde ich wieder einen Schatz.“
„Pass nur auf, dass nichts herunter fällt, vor allem nichts, das zerbrechen
kann.“
„Wie die Tassen hier, nicht wahr? Die sind gar nicht so wie bei Mama und
Papa. Jede sieht anders aus.“
„Sammeltassen sind das. Die sammelt man. Jedenfalls hat man das früher
gemacht.“
„So schöne Bilder drauf und viel Gold, bestimmt ganz wertvoll.“
„Ich weiß nicht, aber für mich sind sie sehr wertvoll.“
„Für mich auch, Oma, vor allem die mit dem grünen Vogel. Ich kann die Federn
sogar fühlen. Darf ich die mal herausnehmen?“
„Ja, ja, aber ganz vorsichtig.“
„Wie schön er aussieht. Kann man aus den Sammeltassen auch trinken?“
„Sicher kann man das. Dazu sind sie ja eigentlich da.“
„Dann möchte ich aus dieser mit dem Vogel Kakao trinken.“
„Du kommst auf Ideen, meine Kleine.“
„Gute Ideen. Bleib nur sitzen, ich hole schon alles.“
Laura lief in die Küche und war flugs wieder da.
„Hier, Milch, Kakaopulver und zwei Löffel.“ Sie legte die Sachen auf dem
Tisch ab und flitzte gleich wieder los, zum Schrank. „Ich hole noch eine
Tasse für dich, Oma. Welche möchtest du?“
„Für mich? Ja, warum eigentlich nicht? Schau mal nach der mit der roten
Rose. Die hat mir immer so gut gefallen.“
Laura musste nicht lange suchen. Schnell kam sie mit der Rosentasse zurück.
„Lass nur, ich mach das schon“, sagte sie, als die Großmutter sich mit dem
Schraubverschluss der Milchpackung abmühte, und bereitete die Getränke zu.
„Hier, siehst du? Rose und Vogel. Sogar mit Untertellern, rot für dich und
grün für mich.“
Sie setzte sich neben Oma auf das Sofa und betrachtete zufrieden das
Tassenpärchen.
„Wunderbar hast du das gemacht, mein kleiner Schatz. Wie geschickt du bist!“
„Du bist auch geschickt, Oma. Und weißt du, in was?“
„Was meinst du?“
„In Geschichten erzählen. Die sind immer so spannend. Bitte!“
„Du kannst betteln. Wer könnte dir widerstehen? Mir ist doch auch gerade
wieder eine eingefallen.“
Laura rückte nah an Oma heran, als die zu erzählen begann.
„In einem Park irgendwo in der Heide lebte einmal ein wunderbarer Vogel. Mit
seinem samtgrünen Gefieder und den purpurroten seidigen Federn auf dem Kopf
war er der schönste im gesamten Vogelpark. Die Besucher blieben stehen und
schauten zu, wenn er im Sonnenschein mitten auf der großen Wiese die grünen
Flügel ausbreitete, sich in die Lüfte erhob, ein paar Runden flog und
elegant auf einem Baum landete. Er hieß Damamunga. Ein kleines Mädchen,
ungefähr so alt wie du, hatte ihm diesen Namen gegeben.“
„Lebte Damamunga denn ganz alleine?“ Laura nahm Omas Hand.
„Nein, er lebte sehr glücklich mit seiner Frau in ihrem gemütlichen Nest
hoch oben in einem Baum am Rande der Wiese und sie bekamen einen
wundervollen Sohn. Der Vater lehrte den Kleinen alles, was so ein junger
Vogel können musste.“
„Vor allem fliegen“, meinte Laura.
„Ja, vor allem fliegen, aber auch den Baumstamm hochklettern, Gefahren
meiden und Nahrung finden, Würmer, Larven, oder auch Samenkörner. Jeden
Morgen und jeden Abend speisten sie zu dritt auf der Wiese, den Jungen
hatten sie in der Mitte. Dem sah man schon bald an, dass er einmal sehr
schön werden würde.“
„Genau so schön wie sein Vater?“
„So richtig grün war er noch nicht. Das Gefieder war noch hell gesprenkelt,
bekam aber allmählich einen grünlichen Schimmer. Der Kleine lernte sehr
schnell und machte gute Fortschritte, vor allem im Starten und Landen. Daran
hatte er so viel Spaß, dass er von morgens bis abends übte. Nach einigen
Wochen war es dann so weit, dass er zusammen mit dem Vater eine Runde über
der Wiese fliegen und sicher auf dem Baum landen konnte. Jeden Tag flogen
die beiden nun ihre Runden und wenn die Landung geglückt war, bekam der
Junge jedes Mal von den Besuchern des Parks einen Sonderapplaus. Und was
meinst du wohl? Auch ihm gab ein kleines Mädchen einen Namen.“
„Agnumamad“, rief Laura.
„Richtig, so nannte das Kind ihn. Die Eltern waren stolz auf Agnumamad, der
sich zu einem wahren Flugkünstler entwickelte. Immer mehr Menschen kamen und
wollten ihn sehen, weil er noch höher flog als sein Vater. Manchmal stürzte
er sich senkrecht herunter und zog kurz vor dem Boden noch einmal hoch.
Davon konnten die Zuschauer gar nicht genug bekommen. Es sprach sich herum
und Agnumamad wurde die Attraktion des Vogelparks. Das war auf der einen
Seite schön, doch auf der anderen Seite war es gar nicht gut, denn kurz
darauf geschah etwas Schreckliches.“
Laura kuschelte sich noch enger an die Oma und drückte ihre Hand.
„Stell dir vor, Agnumamad wurde vom Parkdirektor verkauft.“
„So ein böser Mann! Warum hat er das gemacht?“
„Weil ihm jemand viel Geld für ihn geboten hatte.“
„Wohin kam Agnumamad?“
„In einen anderen Park, ganz weit entfernt.“
„Dann sperrte man ihn bestimmt in einen Käfig. Und jetzt? Was machten Papa
und Mama jetzt? Gingen sie ihn suchen?“
„Die Eltern wussten nicht einmal, wo der andere Park war. Was sollten sie
machen? Ihr Glück war zerstört. Sie waren verzweifelt, vor allem die Mutter.
Die war so traurig, dass sie seitdem nichts mehr essen wollte. Damamunga
versuchte alles, um sie zu trösten, ging nur zum Nahrung suchen von ihrer
Seite und brachte ihr die fettesten Würmer und Larven. Nichts half. Sie
wurde immer schwächer und eines Morgens fand er seine Frau tot unter dem
Baum liegen.“
„Da war er ja ganz alleine, der Arme“, sagte Laura.
„Ja, er fühlte sich sehr einsam und hatte an nichts mehr Freude. Außerdem
hatte er schreckliche Angst vor Feinden und konnte nachts nicht schlafen. An
Fliegen war bald gar nicht mehr zu denken und auch das Laufen fiel ihm von
Tag zu Tag schwerer.“
„Er wurde ja auch immer älter, wie du, Oma. Hier, das Trinken nicht
vergessen!“ Laura reichte ihr die Rosentasse und nahm selbst einen Schluck
Kakao aus der Vogeltasse.
„Das kam noch hinzu. Mit dem Alter wurde er immer kraftloser, wie das eben
so ist. Da er auch nicht mehr klettern konnte, musste er sein Nest im Baum
aufgeben und schlief versteckt unter einem Strauch. Und das Schlimmste war,
dass auf seiner Wiese nun ein Pfau von den Menschen bewundert wurde. Wenn
der seinen Schwanz zu einem Rad auffächerte, musste er sich die „Aaaaahs“
und „Oooohs“ anhören. Dieses Elend konnte er nicht lange ertragen. Eines
Tages fand er ein Loch im Zaun und verließ den Vogelpark.“
„Vielleicht findet er Agnumamad, Oma.“
„An seinen kleinen Jungen dachte er natürlich die ganze Zeit. Wenn er nur
gewusst hätte, wo er ihn finden könnte. Jedenfalls humpelte er erst einmal
los, nur weg von diesem Ort wollte er. Unglücklicher konnte er ja gar nicht
mehr werden. Der Weg führte über viele Felder und mündete in einen schmalen
Pfad im Wald. Am Abend fand er Unterschlupf unter einem Baumstamm.“
„Und dann? Als es dunkel wurde? Hatte er Angst?“
„Er war so müde, dass er sofort einschlief. Am nächsten Morgen sah die Welt
nicht mehr ganz so trostlos aus. Die Sonne schien und der Wald war hell und
grün. Unter einem Baum fand er sogar ein paar Samenkörner. Als er sich ein
wenig gestärkt hatte, ging er weiter und kam auch einigermaßen gut voran,
bis nach einer ganzen Weile der Boden morastig wurde und dichtes Gestrüpp
ihm zu schaffen machte. Seine Kräfte gingen zu Ende, die Beine wollten nicht
mehr so recht. Ja nicht aufgeben, dachte er, kämpfte sich durch das Dickicht
und schleppte sich weiter. Als es wieder Abend wurde und er einen Platz für
die Nacht suchen wollte, stand er plötzlich vor einem Zaun und schaute
hindurch auf eine Wiese.“
„Nein, nicht schon wieder!“, seufzte Laura.
„Keine Bange, mein Schatz. Damamunga hatte es sehr gut angetroffen. Viele
Vögel waren dort zum Abendessen versammelt, klein und groß, grau, schwarz,
gelb, blau und rot. Es war der Garten einer alten Frau, die Tiere sehr
liebte, und allen half. Vor allem half sie denen, die in Not geraten waren.
Sie hatte ihn auch gleich entdeckt und ging, auf ihren Stock gestützt, zum
Zaun. ‚Was bist du so ein schöner Grüner! Komm herein’, sagte sie und hob
den Maschendraht ein wenig hoch, damit er hindurchschlüpfen konnte.“
Laura rannte zum Fenster.
„Schau mal, Oma, da ist er schon mitten auf der Wiese zwischen den anderen
und findet Würmer und Larven. Jetzt kann ihm nichts mehr passieren. Und sieh
mal, wer da oben im Mirabellenbaum sitzt!“, rief sie ganz aufgeregt. „Agnumamad!
Er ist grün!“
©Renate Hupfeld
Kommentare
an:
renatehupfeld(at)gmail.com
Archiv der Monatsgeschichten
|
|