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Das weiße Flackern
Renate Hupfeld
Kaum jemand verirrte sich hierher zwischen die
Gesteinsbrocken; Überreste eines Vulkanausbruchs, die den Strand zu einem
unwirtlichen Ort machten. Irgendwo da oben war der Lavastrom vor Jahrzehnten
herausgeschleudert worden und hinunter geflossen bis ins Meer. Hier war sie
allein mit dem Felsriesen, der dunkel gezackt in den Himmel ragte und die
Bucht zum Süden hin abgrenzte, angelockt von der Verheißung einer
unendlichen Weite hinter dem Horizont. Es fiel ihr jedoch schwer, den Blick
abzuwenden vom beharrlichen Spiel der Brandung, deren Gischt immer neue
Muster in den schwarzen Sand zeichnete. Der Morgen war noch jung, und ihr
war einen Moment lang, als wäre der Dämon der vergangenen Nacht gefangen im
Wirbel der Wellen, die in unermüdlichem Gurgeln, Sprudeln und Klatschen die
großen und kleinen Steine umspülten. Noch einmal war sie davongekommen, als
hätte die Sonne sich ihrer erbarmt, sie erlöst vom Platz am Rande des
Kraterabgrundes. Doch Erlösung gab es nicht. Die frischgrünen Reben im
Sonnenwald waren erschlafft, der einst so würzige dunkelrote Wein fade und
blass geworden. Nichts konnte sie erfreuen. Unerträglich der Gedanke an die
Zähigkeit des bevorstehenden Tages, an eine weitere Nacht der Abgründe. Wozu
noch kämpfen? Sie war verloren.
Und doch, noch immer die Frage. Warum?
Suche nicht nach Erklärungen, flüsterte der Wind. Lass dir nichts
vorgaukeln. Er zieht dich heran, um dich wegzustoßen. Immer wieder macht er
das. Du hast ihm vertraut, wurdest weggestoßen, hast ihm wieder vertraut,
wurdest wieder weggestoßen, immer wieder mit sanfter Stimme umschmeichelt,
immer wieder vertraut, immer wieder verletzt. Dein Vertrauen hat er mit
großer Geste weggeschleudert, deine Liebe sinnlos verschwendet. Alles hast
du ihm gegeben, bis auf den letzten Tropfen, zuerst mit Leidenschaft, später
dann, weil du an ihm festklebtest. Verknotete Gefühle entwirren? Vergiss es.
Du hast nichts zu verlieren.
Ihr blieb keine Wahl. Komm, schwarzer Dämon. Leg die Maske ab. Du bist hell
und süß. Zeige mir den Weg. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Eine
unglaubliche Stille umgab sie. Selbst die Brandung hatte ihr Rauschen
eingestellt. Einen Moment lang die friedliche Ruhe genießen, dann losgehen,
einen Schritt, einen weiteren und noch einen, bis der Boden weich wurde und
nachgab. Dunstschwaden strichen über ihr Haar und zogen an ihr vorbei. Mit
leichten Schritten ging sie zwischen Schlingpflanzen, die ihr den Weg frei
machten, sobald sie sich näherte. Plötzlich wurde der Nebel so dicht, dass
sie nichts mehr sah. Sie blieb stehen. Verschwunden das Grün, selbst ihre
Hände und Füße waren nicht mehr zu sehen. Wo war oben und unten? Und was war
das? Hatte jemand sie berührt? Sie horchte.
„Du brauchst Hilfe?“
„Ja, ja“, sagte sie eilig.
Doch zu wem gehörte dieses Stimmchen? Erst nach einer Weile des
angestrengten Hinsehens erblickte sie eine kleine kugelförmige Gestalt,
durch deren transparente Oberfläche es vom Boden her kupfern blinkte.
„Hallo“, sagte das Geschöpf.
„Hallo, kleines Kerlchen. Was tust du hier so mutterseelenallein?“
„Ich habe gewartet.“
„Auf wen?“
„Ich habe gewartet, um dich auf den richtigen Weg zu führen.“
„Wusstest du denn, dass ich hierher komme?“
„Du hast gefunkt.“
„Ach, ja?“
„Du hast mich gerufen, weil du Hilfe brauchst. Allein findest du aus diesem
Nebelwald nicht heraus. Du würdest dich hoffnungslos verlaufen.“
Wie Recht das seltsame Wesen hatte!
„Folge mir“, sagte es und ging voraus, wobei sich herausstellte, dass es
sich mit seinen kleinen Füßen erstaunlich schnell vorwärts bewegte. Sie
blieb dicht hinter ihm.
Plötzlich war der blinkende Winzling verschwunden. Stattdessen sah sie ein
Flimmern, das sich in ein weißes Flackern verwandelte. Eine ungeheure Kraft
zog sie mitten hinein in diese Lichtflut. Sie wurde überwältigt von tausend
und abertausend Blitzen, die in so schnellem Stakkato auf sie einschossen,
dass ihr schwindlig wurde. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden.
„Alles okay?“
Ein Mann, über sie gebeugt.
„Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“
Mit Hilfe seiner hingestreckten Hand rappelte sie sich auf.
„Hier, Ihr Brief. Der Wind hat ihn weggeweht.“
„Er hat ihn nicht weit genug geweht.“ Sie zerriss den Umschlag und warf die
Schnipsel hinter die Brandungswelle.
„Verdammter Lügner“, schrie sie.
Dann wandte sie sich ihrem Helfer zu, der sie so verdattert ansah, dass sie
lachen musste.
„Das ist nicht gegen Sie gerichtet, junger Mann. Irgendwann werden Sie mich
verstehen.“
Nun musste er ebenfalls lachen. Sie sahen dem Tanz der weißen Fetzen auf den
Wellen zu, bis auch der letzte verschwunden war.
©Renate Hupfeld
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renatehupfeld(at)gmail.com
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