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Die Sorge im Haus
(Hommage an
Franz K. und Günter H.)
Renate Hupfeld
Bisher erzielte man mit der Suchanfrage nach ‚Odrabinga’
null Ergebnisse. Seit einiger Zeit jedoch gibt es im Internet Hinweise auf
ein Forum, dessen Mitglieder zu diesem Begriff Geschichten verfassen. Da ist
es die Bezeichnung für die hitverdächtige Neuentwicklung eines beliebten
Ratespiels oder es geht um ein odrabingisches Horrorkabinett auf der
zweiundvierzigsten Straße oder um einen Chip, der irgendwo im Moor
schlummert, bis ein Experte ihn aufspürt, der das Kennwort entschlüsselt, um
mit Hilfe der gespeicherten Formel die Menschen von ihrem totalen
Kontaktverlust zu heilen, den sie sich durch ein datenhungriges Virus
zugezogen haben, das in Sekundenbruchteilen sämtliche Computer der Welt
infiziert.
Natürlich würde sich niemand mit solchen Überlegungen beschäftigen, wenn es
nicht tatsächlich ein Wesen mit diesem Namen gäbe. Es sieht zunächst aus wie
eine herkömmliche Glühbirne, deren transparentes Oberteil in mehr oder
weniger klarer Kontur, jedoch darunter kein Innenleben, erkennbar ist. Den
unteren Teil bildet eine Art Spule, ähnlich der Odradek’schen Zwirnsspule,
aber kupfern glänzend, wie ein Relais, nur viel größer und dicker. Darunter
befinden sich zwei kugelförmige Füßchen, mit denen es sich erstaunlich flink
fortbewegen lässt, wenn sich jemand nähern will.
Odrabinga hält sich zeitweise im Keller, auf dem Dachboden, im Treppenhaus
oder im Wohnzimmer auf, selten im Wintergarten und nie im Garten. Ab und zu
hockt sie zur Bettzeit in einer Ecke des Schlafzimmers, stört aber nicht
weiter. Am nächsten Morgen ist sie nicht mehr da. Oder sie zappelt um das
Notebook herum, eine Störung, die sich durch Beenden des Standby-Modus
beheben lässt. Es kommt auch vor, dass sie wochenlang gar nicht zu sehen
ist; dann ist sie wohl in andere Häuser umgesiedelt. Doch kehrt sie
unweigerlich wieder zurück in unser Haus.
Manchmal, wenn man im Obergeschoss aus dem Zimmer tritt, lauert sie unten am
Treppengeländer. Dann ist man geneigt, sie anzusprechen. Man stellt ihr
keine schwierigen Fragen, sondern behandelt sie wie ein Kind, schon ihrer
kleinen Füße wegen. ‚Wie heißt du denn?’, fragt man. ‚Odrabinga’, antwortet
sie. ‚Und wo wohnst du?’ ‚Wohnort unbestimmt’, lacht sie. Das Lachen klingt
so ein bisschen wie Rascheln oder Knistern, aber doch noch ganz anders und
hält sich einen Moment lang in den Ohren. Übrigens sind diese Antworten
nicht immer aus ihr herauszulocken. Meistens bleibt sie stumm, wie das
Plastikmaterial, das sie zu sein scheint.
Was wird einmal mit ihr geschehen? Vergeblich frage ich mich, ob sie denn
sterben kann. Sterben kann doch nur jemand, der einen Anfang gehabt hat,
eine Tätigkeit, an der er sich verbraucht hat, zumindest jedoch einen
Lebensweg. Sein Lebenskreis hat sich geschlossen, heißt es dann in der
Traueranzeige. Odrabinga wird weder bei Sonnenschein, Nebel oder klirrendem
Frost in einem Erdloch verschwinden, noch eines Tages beim Trip im
brasilianischen Dschungel, im Eisbruch des Himalaja oder beim Absturz eines
Fliegers in den Wellenbergen des Atlantiks. Eigentlich kann ich ja auch
nicht sagen, dass sie wirklich jemandem schadet. Wenn da nur nicht dieser
schon fast schmerzliche Gedanke in meinem Kopf wäre, die Vorstellung, sie
sollte mich auch noch überleben. Wird sie einstmals noch vor den Füßen
meiner Kinder, Enkel und Urenkel mit nachziehendem Metallfaden die Treppe
hinunterkullern?
©Renate Hupfeld
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an:
renatehupfeld(at)gmail.com
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