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Heuchler
Renate Hupfeld
„Was ist los mit dir, Alter? Biste schlecht drauf?“
Das darf doch nicht wahr sein. Ist mir dieser Hampel mit der Tarnhose vom
Bahnhof etwa bis hierher gefolgt? Bierflasche in der Hand, bezahlt von dem
Geld, das er anständigen Leuten aus der Tasche zieht. Wer weiß, wie viele
der heute schon angelabert hat. ‚Haste mal ’nen Euro?’ Den soll er sich erst
mal verdienen, es gibt genug Unkraut und Müll in der Stadt. Mit der
Chipstüte da unten kann er gleich anfangen. Doch Arbeit kennen diese Typen
ja nicht.
„Lass gut sein und mach dich vom Acker“, fordere ich ihn auf.
Rotzfrech stellt er einen Stuhl neben meinen und nimmt einen Schluck aus
seiner Flasche. Soll ich jetzt etwa wegen dieser Schmeißfliege das Lokal
wechseln? Ich nehme mir die Karte vor. Den besten Cappuccino der Stadt
gibt’s hier und nirgends kann man so gemütlich draußen sitzen. Im Übrigen
trudelt bei dem schönen Wetter noch der eine oder andere Bekannte ein.
„Bist doch auch nur auf der Suche, das verstehe ich gut.“
„Nichts verstehst du. Du sollst dich vom Acker machen, hab ich gesagt.
Verstehst du jetzt?“
„Dass du auf der Suche bist. Und stell dir vor, du findest, was du suchst,
sagen wir mal, du begegnest deiner großen Liebe und beginnst mit ihr ein
gemeinsames Leben.“
„Schön“, sage ich, „aber es reicht.“
„Schön hätte es sein können“, fährt er fort, während er mir noch näher auf
die Pelle rückt und ich die Getränkeliste rauf und runter lese. „Doch nach
einiger Zeit ist alles weg, was du aufgebaut hast, einfach weggeflossen.“
„Wie das Bier aus der Pulle.“
„Nein, nein, Kumpel, das ist kein Scherz. Stell dir vor, deine große Liebe,
sagen wir mal, die Frau deiner Träume, wird von einer unsichtbaren Macht
beherrscht.“
„Seltsame Traumfrau.“
„Nicht wahr? Trotzdem willst du sie nicht verlieren. Deine Liebe ist ja
stärker als dieser verdammte Stoff. Glaubst du jedenfalls. Du hältst sie
fest, hast aber nichts, woran du dich festhalten kannst.“ Dabei dreht er die
Flasche in den Händen.
„Komm runter von deinem Trip, schreist du, wenn sie mal wieder so breit ist,
dass sie nicht mehr stehen kann. Horror, sag ich dir. Ihr ganzer Körper ein
Zittern, sie ist in Tränen aufgelöst, weiß plötzlich nicht mehr, wer sie
ist, Notarzt, das ganze Programm. Ein Bündel Elend.“
„Junkie, kennt man doch.“
„Irgendwann hast du es satt, belogen und beklaut zu werden. Ihre Betonfresse
kotzt dich an. Du willst gehen, doch sie verspricht dir alles. Immer wieder
vertraust du, immer wieder.“
„Schön blöde.“
„So einfach ist das nicht, du kennst das vielleicht: ‚… was du dir vertraut
gemacht hast …’ Nicht gelesen? Schade. Also eines Tages ist sie
verschwunden. Du suchst sie in den Grünanlagen, in der Fußgängerzone, im
Einkaufscenter auf dem obersten Parkdeck.“
„In die Tiefe gesprungen. Was sonst?“
„Viel schlimmer. Also, ich hab plötzlich eine Eingebung, wo sie sein könnte,
renne zum Bahnhof, hetze die Treppe hoch, entdecke sie an der
Bahnsteigkante, springe hin, krieg noch ihren Arm zu fassen, doch das weiße
Ungetüm reißt sie mit, lässt mich mit nutzlos ausgestreckter Hand zurück.
Ich sag dir: Das ist die Hölle.“
„Filmreife Szene“, sage ich.
Er schweigt.
Glaubt dieser Simpel etwa, ich falle auf seine Story herein? Mitleidtour
läuft nicht. Nicht bei mir.
„Hör mal zu, Junge. Seit einer Viertelstunde höre ich mir dein Lamento an,
das mich zudem null interessiert. Ich hab Feierabend und will jetzt meine
Ruhe. Aber das verstehen Leute wie du ja nicht.“
Er springt auf und knallt die Bierflasche auf den Tisch. „Vergiss es! Ihr
seid doch alle gleich! Heuchler! Fiese Heuchler.“
Nachdem ich die Getränkekarte vor mich hingelegt habe, räumt die Bedienung
ab und zieht Block und Stift aus der Gürteltasche. „Darf’s etwas sein?“
„Ramazotti ohne Eis, doppelt.“
©Renate Hupfeld
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renatehupfeld(at)gmail.com
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