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Die große Kartause
Renate Hupfeld
Montag, 12. Mai 1845: Die 28-jährige Malwida von Meysenbug befindet sich
nach mehrmonatigem Aufenthalt in der Provence zusammen mit ihrer Schwägerin,
deren zwei Neffen und drei Bediensteten, auf der Rückreise von Hyères nach
Deutschland. Die Reisegruppe hat die Route Napoléon durch die Alpen
genommen. Nach mehreren Tagesetappen in einer komfortablen Reisekutsche und
Übernachtungen in Aix-en-Provence, Manosque und Sisteron machen Malwida, die
beiden Jungen und deren Erzieher von Grenoble aus eine etwas abenteuerliche
Exkursion in die Berge der Grande Chartreuse, um das berühmte Kloster zu
besuchen.
Der
Laienbruder hatte sie in diesen kleinen Raum geführt, nachdem er dem
Erzieher den Weg zum Portal der Großen Kartause gewiesen und die beiden
Knaben nebenan untergebracht hatte. Es war alles da, was man für eine
Übernachtung brauchte: Bett, Stuhl und Waschtisch. Auch was sie nicht
brauchte: Betbank, Kruzifix und Weihwasserbecken. Der Mann stand in der Tür
und wartete. Noch keinen Laut hatte sie aus seinem Munde gehört. Selbst sein
Blick wirkte stumm. Es fiel ihr schwer, diese unerschütterliche Gelassenheit
zu ertragen, hatte sie sich doch den Besuch der berühmten Grande Chartreuse
hoch oben in den Bergen nördlich von Grenoble ganz anders vorgestellt. Einen
Einblick in die Anlage und das Klosterleben wollte sie bekommen. Doch nur
Männer durften das Innere des Klosters betreten. Und ihr Gegenüber stand da,
als wäre alles in Ordnung. Sie blickte an ihm herunter. Nicht die kleinste
Bewegung der grauen Kutte, die in geraden Falten bis auf den Boden reichte
und die Füße vollständig bedeckte.
Ach, ihm konnte sie eigentlich keinen Vorwurf machen, befolgte er doch nur
die Regel. Sie nickte dem Mann zu und lächelte. Ein aufgesetztes Lächeln
nur, doch das merkte er nicht. Er hatte verstanden. Sie wollte nun allein
sein. Mit höflicher Verbeugung drehte er sich um und ging hinaus. Jeder
Schritt auf den Dielen und Treppenstufen des Holzhauses verursachte ein
knarrendes Geräusch. Sie hörte, wie er unten das Essgeschirr vom Tisch
räumte, es abwusch und Stück für Stück in den Schrank stellte, wie er dann
die Eingangstür des Hauses von außen zudrückte, den Schlüssel in das Schloss
schob, umdrehte, herauszog und prüfte, ob die Tür wirklich verschlossen war.
Dann schlurfte er den kurzen Weg zum Klosterportal, zu den anderen Männern,
die ihr schweigsames Leben ihrem Gott gewidmet hatten.
Müde vor Enttäuschung ließ sie sich auf den Stuhl fallen, zog ihr
Skizzenbuch aus der Tasche und legte es sich auf die Knie. Mit den Händen
strich sie darüber, als wollte sie es liebkosen. Dann zeichnete sie die
Windungen des marmorierten Musters mit dem Finger nach. Die Berührung mit
der rauen Pappe und das leise Wischgeräusch taten ihr gut. Immer wieder
begann sie von neuem, bis die Wut im Bauch verflogen war und ihre Gedanken
sich allmählich ordneten.
Sie öffnete das Fenster und schob die beiden Flügel beiseite. Beim Anblick
der hohen, undurchdringlichen Klostermauern hatte sie Mühe, die Tränen
zurückzuhalten. Ja nicht weinen, dachte sie und trat ganz nah an das Fenster
heran. Dann löste sie ihre Frisur und ließ die langen Haare weich über
Schultern und Rücken fließen. Wie mochte es da drinnen aussehen? Was mochten
sie gerade tun hinter den Mauern? Wurde gearbeitet, gebetet, gegessen?
Irgendwo dort befand sich für einen Abend und eine Nacht auch der Besucher,
mit dem zusammen sie diese abenteuerliche Gebirgstour gemacht hatte und der
nun ohne sie dieses Vorrecht genoss. Mann! Männer! Dort die Gemeinschaft der
Männer und hier die stille Beobachterin, allein mit ihrem Skizzenbuch.
Sie nahm den Zeichenstift in die Hand und suchte einen geeigneten
Blickwinkel. Viele Möglichkeiten hatte sie nicht, doch zum Glück bot der
Blick aus westlicher Richtung eine gute Sicht auf die gesamte Klosteranlage,
eingebettet in die Hochgebirgslandschaft. Sie skizzierte die Fixpunkte. In
der Mitte das bogenförmige Eingangsportal, hinter den Mauern Gebäude neben
Gebäude aneinandergereiht, Dächer, Türme, Fenster. Und über allem das
erhabene Bergmassiv. Dann arbeitete sie an den Feinheiten. Beim Beginn der
Dämmerung war sie hoch oben bei den dunklen Tannen angekommen, die sich
dicht gedrängt bis zur Baumgrenze hinauf kämpften. Sie zeichnete jede
einzelne. Oberhalb schlängelte sich ein felsiger Pfad in die Höhe, den sie
vorher gar nicht gesehen hatte. In silberblauem Licht strahlte er. Wie von
unsichtbarer Hand geführt, ging sie hinauf und erreichte ein Plateau, das
ebenfalls blausilbern glänzte. Wie leicht sie sich fühlte. Ihre Haare und
die Schleppe des Gewandes wehten frei im Lufthauch. Ein Glockenton setzte
die Lichtstrahlen in tausend und abertausend Schwingungen. Wenig später
hörte sie eine Stimme. Gesang wurde intoniert. Ein Chor stimmte mit ein,
sang von einem einsamen Pfad, den alle diejenigen gingen, die die Wahrheit
suchten. Ihr war, als sänge sie mit in dem Chor. Ich nehme den einsamen Weg
an. Ich werde die Wahrheit finden. Das Echo hallte unendlich lange nach,
nehme den einsamen Weg an, werde die Wahrheit finden. Als auf ihrem Gesicht
dicke Schneeflocken sich kühl auflösten, klappte sie das Skizzenbuch zu und
schloss das Fenster.
Lautes
Klopfen und die aufgeregte Stimme des Erziehers weckten sie früh am nächsten
Morgen.
„Mademoiselle von Meysenbug, wachen Sie auf. Es gibt Schwierigkeiten mit dem
Abstieg. In der Nacht hat es geschneit und die Sicht ist sehr schlecht.“
„Ich weiß, Herr Ludwig“, rief sie. „Warten Sie unten auf mich. Wir
besprechen nachher, was zu tun ist.“
Sie stand auf und zog sich an. Die Nebelschwaden vor ihrem Fenster
versetzten sie keinesfalls in Panik. Ihr war, als wäre alle Schwere von ihr
gewichen. Schon auf der Treppe strömte ihr Kaffeeduft entgegen. Im Essraum
hatte der Laienbruder ihnen das Frühstück bereitet, frisches Brot, Butter
und Honig. Der Erzieher saß mit den Kindern am Tisch. Alle drei schienen auf
sie zu warten.
„Ich habe Angst, Tante Malwida“, jammerte Wilhelm.
„Das sagst du, kleiner Wildfang, dem gestern kein Fels zu steil war?“,
entgegnete Malwida, lachend, obwohl sie die Angst des Kindes gut verstehen
konnte. Auch ihr lief ein Schauer über den Rücken, wenn sie an den Abstieg
dachte. Schon bei gutem Wetter am Vortage war der Aufstieg voller Gefahren
gewesen, die Abgründe waren nicht ohne gewesen. Heute würden die schmalen
Pfade auch noch rutschig sein. Ein Fehltritt konnte schlimme Folgen haben.
Sie wollte sich das gar nicht ausdenken.
„Ich will nach Hause. Hätten wir das doch nie gemacht!“, jammerte nun
Alphons und nahm den kleinen Bruder in den Arm. Auch er hatte Recht. Warum
hatten sie die Kinder eigentlich in diese Gefahr gebracht? Dennoch wunderte
sie sich, wie ruhig sie blieb. Als hätte ein Hauch von Gelassenheit sie
berührt.
„Wie sollen wir hinunter in das Tal kommen?“, wandte jetzt der Erzieher ein.
„Ihre Schwägerin wird sich große Sorgen machen, wenn wir nicht gegen Mittag
zurück sind in Grenoble.“
„Das wird sie“, entgegnete Malwida. „Doch in dieser Situation ist unsere
Sicherheit wichtiger, vor allem die Sicherheit der Kinder.“
Herr Ludwig nickte.
„Wir müssen dem Bergführer und seinen Maultieren vertrauen. Nach dem
Frühstück werde ich mit dem Mann reden“, fuhr sie fort, obwohl sie der
Meinung war, dass das eigentlich die Aufgabe des begleitenden Herrn war.
Doch dessen Kenntnisse der französischen Sprache reichten auch nach einem
halben Jahr Aufenthalt in der Provence kaum aus, um diese Angelegenheit zu
regeln.
„Herr Ludwig, wie war eigentlich die Nacht im Kloster?“, fragte Alphons und
sah seinen Erzieher mit gespannter Erwartung an.
„Ja, erzählen Sie mal“, forderte Wilhelm ihn auf.
„Am Eingang empfing mich ein Laienbruder.“
„Ein anderer?“
„Ja. Der führte mich in eine Zelle, ziemlich klein mit einem einfachen
Bett.“
„Und Kruzifix und Betbank“, unterbrach der Kleinere ungeduldig. „Und war ein
Fenster in der Zelle?“
„Richtig, Kruzifix und Betbank. Ein Blechofen war noch da, den brauchte ich
aber nicht. Das Fenster war sehr klein, in einen kleinen Garten mit
Obstbäumen und Gemüsebeeten konnte ich sehen.“
Nichts gesehen hat er, dachte Malwida.
„Und wie sah es sonst im Kloster aus? War es groß da drinnen?“, fragte
Alphons.
„Lange Gänge, viele Zellentüren, ein Kloster eben. Einen Rundgang durfte ich
nicht machen. Zumeist hielt ich mich in meiner Zelle auf.“
„Bis Sie jemand abholte?“, wollte Malwida wissen.
„Ja, bis zur Mitternacht die Glocke läutete. Der Laienbruder nahm mich mit
in das so genannte Reflektorium.“
„Mitten in der Nacht?“
„Jede Nacht machen sie das, Wilhelm. Das ist die Regel.“
„Jede Nacht in diesem Reflektorium?“, wunderte sich auch der Ältere. „Reflektorium,
ein seltsames Wort.“
„Ja, immer dort. Das Reflektorium ist ein großer Raum mit hohen Fenstern.
Wie eine Kirche müsst Ihr euch das vorstellen, lange Betbänke an den zwei
Seitenwänden.“
„Und wie viele Klostermänner waren um Mitternacht in diesem Reflektorium?“,
setzte der Kleine nach.
„Alle, denke ich. Doch wie überall, wurde auch hier nicht gesprochen. So
konnte ich niemanden fragen. Ich schätze, es waren ungefähr siebzig. Einer
der Patres stimmte einen Gesang an und der ganze Chor setzte mit ein,
Gregorianische Gesänge nennt man das.“
„Haben Sie sich die Texte gemerkt?“, wollte Malwida wissen.
„Texte? So genau weiß ich das nicht mehr.“
„Ach, das haben sie gar nicht gehört?“
„Wichtiger war die Atmosphäre. Die war sehr bewegend.“
„Sang denn der Chor in französischer Sprache?“
„Gregorianische Gesänge sind immer in lateinischer Sprache. Schon vor über
sieben Jahrhunderten, als der Heilige Bruno dieses Kloster gründete, war das
so. Das müssten Sie aber wissen, gnädiges Fräulein von Meysenbug.“
„Nicht in diesem Ton, Herr Ludwig“, fuhr Malwida ihn an, ließ die drei am
Tisch sitzen und verließ das Haus.
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©Renate Hupfeld
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