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Covergestaltung: Tom Jay

   

 

 

 

Leseprobe:
 

Das weiße Flackern

Kaum jemand verirrte sich hierher zwischen die schwarzen Gesteinsbrocken; Überreste eines Vulkanausbruchs, die den Strand zu einem unwirtlichen Ort machten. Irgendwo da oben war der Lavastrom vor Jahrzehnten herausgeschleudert worden und hinunter geflossen bis ins Meer. Hier war sie allein mit dem Felsriesen, der dunkel gezackt in den Himmel ragte und die Bucht zum Süden hin abgrenzte, angelockt von der Verheißung einer unendlichen Weite hinter dem Horizont. Es fiel ihr jedoch schwer, den Blick abzuwenden vom beharrlichen Spiel der Brandung, deren Gischt immer neue Muster in den schwarzen Sand zeichnete. Der Morgen war noch jung, und ihr war einen Moment lang, als wäre der Dämon der vergangenen Nacht gefangen im Wirbel der Wellen, die in unermüdlichem Gurgeln, Sprudeln und Klatschen die großen und kleinen Steine umspülten. Noch einmal war sie davongekommen, als hätte die Sonne sich ihrer erbarmt, sie erlöst vom Platz am Rande des Kraterabgrundes.
Doch Erlösung gab es nicht. Die frischgrünen Reben im Sonnenwald waren erschlafft, der einst so würzige dunkelrote Wein fade und blass geworden. Nichts konnte sie trösten, nichts sie mehr erfreuen. Unerträglich der Gedanke an die Zähigkeit des bevorstehenden Tages, an eine weitere Nacht der Abgründe. Wozu noch kämpfen? Sie war verloren.
Und doch war da noch immer die Frage. Warum?
Wie konnte es so weit kommen? Wo war ihr Mut geblieben?
Suche nicht nach Erklärungen, flüsterte der Wind. Lass dir nichts vorgaukeln. Er zieht dich heran, um dich wegzustoßen. Immer wieder macht er das. Du hast ihm vertraut, wurdest weggestoßen, hast ihm wieder vertraut, wurdest wieder weggestoßen, immer wieder mit sanfter Stimme umschmeichelt, immer wieder vertraut, immer wieder verletzt. Dein Vertrauen hat er mit großer Geste weggeschleudert, deine Liebe sinnlos verschwendet. Alles hast du ihm gegeben, bis auf den letzten Tropfen, zuerst mit Leidenschaft, später dann, weil du an ihm festklebtest. Verknotete Gefühle entwirren? Vergiss es. Du hast nichts zu verlieren.
Ihr blieb keine Wahl. Komm, schwarzer Dämon. Leg die Maske ab. Du bist hell und süß. Zeige mir den Weg. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Eine unglaubliche Stille umgab sie. Selbst die Brandung hatte ihr Rauschen eingestellt. Einen Moment lang die friedliche Ruhe genießen, dann losgehen, einen Schritt, einen weiteren und noch einen, bis der Boden weich wurde und nachgab. Dunstschwaden strichen über ihr Haar und zogen an ihr vorbei. Mit leichten Schritten ging sie zwischen Schlingpflanzen, die ihr den Weg frei machten, sobald sie sich näherte. Plötzlich wurde der Nebel so dicht, dass sie nichts mehr sah. Sie blieb stehen. Verschwunden das Grün, selbst ihre Hände und Füße waren nicht mehr zu sehen. Wo war oben und unten? Und was war das? Hatte jemand sie berührt? Sie horchte.
„Du brauchst Hilfe?“
„Ja, ja“, sagte sie eilig.
Doch zu wem gehörte dieses Stimmchen? Erst nach einer Weile des angestrengten Hinsehens erblickte sie eine kleine kugelförmige Gestalt, durch deren transparente Oberfläche es vom Boden her kupfern blinkte.
„Hallo“, sagte das Geschöpf.
„Hallo, kleines Kerlchen. Was tust du hier so mutterseelenallein?“
„Ich habe gewartet.“
„Auf wen?“
„Ich habe gewartet, um dich auf den richtigen Weg zu führen.“
„Wusstest du denn, dass ich hierher komme?“
„Du hast gefunkt.“
„Ach, ja?“
„Du hast mich gerufen, weil du Hilfe brauchst. Allein findest du aus diesem Nebelwald nicht heraus.“
Wie Recht das seltsame Wesen hatte!
„Folge mir“, sagte es und ging voraus, wobei sich herausstellte, dass es sich mit seinen kleinen Füßen erstaunlich schnell vorwärts bewegte. Sie blieb dicht hinter ihm.
Plötzlich war der blinkende Winzling verschwunden. Stattdessen sah sie ein Flimmern, das sich in ein weißes Flackern verwandelte. Eine ungeheure Kraft zog sie mitten hinein in diese Lichtflut. Von tausend und abertausend Blitzen wurde sie überwältigt, die in so schnellem Stakkato auf sie einschossen, dass ihr schwindlig wurde. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden.
„Alles okay?“
Ein Mann, über sie gebeugt.
„Was tun sie hier? Es gibt bessere Orte als diesen. Kommen Sie, ich helfe Ihnen. “
Mit Hilfe seiner hingestreckten Hand rappelte sie sich auf.
„Hier ist Ihr Brief. Sicher von Ihrem Mann. Zwischen den Steinen hab ich ihn gefunden. Der Wind hatte ihn weggeweht.“
„Er hat ihn nicht weit genug geweht.“

Sie zerriss den Umschlag und schleuderte die Schnipsel hinter die Brandungswelle.

„Verdammter Lügner!“, brüllte sie in die Gischt und schaute zu, wie die weißen Fetzen auf den Wellen tanzten und immer kleiner wurden, bis nichts mehr von ihnen zu sehen war. Ihr Helfer stand noch immer noch neben ihr und sah sie so verdattert ansah, dass sie unwillkürlich losprusten musste.
 

Am Strand

Wie linkisch der Bengel ihn aus den Augenwinkeln ansah. Kalt wie seine Mutter. In allen seinen Bewegungen war sie. Wie er Roberts Bierflasche fixierte. Ja, das war sie. Ihr abschätzender Blick. Womöglich führte der Mistkerl Buch über seinen Alkoholkonsum und berichtete ihr dann. Nicht zu glauben. Hatte er den zerknautschten Winzling nicht gleich nach der Geburt gewickelt und ihm das kleine Jäckchen angezogen? Vor neun Jahren? Den Namen ausgesucht? Paul, der kleine Panther? Jahrelang herumgeschleppt, ihm das Laufen beigebracht, ihn an die Hand genommen und ihm alles erklärt? Und jetzt? Aus Spaßkämpfchen war bitterer Ernst geworden und das tat verdammt weh.

Robert drehte die Flasche in der Hand, zerrte an dem Etikett und begann kleine Fitzel abzureißen. Jedes Mal das Theater, wenn er die Kinder sehen wollte. Wie ein Bittsteller kam er sich vor. Nervige Diskussionen am Telefon. Schnupfen, Husten, Fieber, Kino. Einladung, Freund, Freundin. Jede Ausrede ein neuer Papierfitzel auf dem Tisch. Sie brauchte ihn doch nur als Unterhaltszahler. Wozu arbeitete er eigentlich noch? Damit sie sich ein schönes Leben machen konnte. Dieses verdammte Luder hatte nichts anderes im Kopf, als ihm das Geld aus der Tasche zu ziehen und ihm die Kinder zu entfremden. Am Ende würden sie ihn gar nicht mehr sehen wollen. War es denn nicht schon so? Sinnlos war alles geworden. Er trank die Flasche leer und holte eine neue aus dem Kühlschrank.
Sohnemann hatte sich nach ein paar Bissen vom Tisch entfernt und wieder in der Sofaecke hinter seinem Buch verkrochen. Seine kleine Schwester hatte auch keinen Hunger mehr. Sie kramte in der Spielzeugkiste herum. Normale Kinder spielten nach dem Abendessen mit ihren Vätern Fußball am Strand. Doch diese hier waren nicht normal, verdorben waren die. Nichts wollten sie mit ihm machen, ließen ihn ganz allein am Tisch sitzen. Robert räumte ab. Den Rest Spagetti und die Tomatensoße schüttete er in den Abfalleimer, stellte die Schüsseln zu den Tellern in das Spülbecken und warf nicht benutztes Besteck in die Schublade. Wozu kümmerte er sich eigentlich noch um diesen ganzen Mist? Sollten sie doch ihre Hamburger und  Pommes von Papptellern essen. Süßigkeiten aßen sie sowieso heimlich und würden ihrer bekloppten Mutter haarklein erzählen, dass es bei Papa wieder nichts Ordentliches zu Essen gab. Nur Ungesundes. Na und?
Er schaute hinaus in die Brandung. Diesen Urlaub hatte er sich wahrlich anders vorgestellt, hatte im Reisebüro lange gesucht, bis der das Häuschen in diesem Strandparadies gefunden hatte. Zusammen mit Paul und Katharina wollte er kochen, gemütlich essen und nach dem Abendessen am Strand Fußball spielen. Dann im warmen Sand sitzen und den Pelikanen beim Jagen zuschauen, er in der Mitte, rechts der Sohn, links die Tochter, bis die Sonne untergegangen war. So machten es andere Väter jeden Tag, so hatte er sich das gewünscht. Doch zu gar nichts hatten diese Kinder Lust, behandelten ihn wie einen Fremdkörper. Wahrscheinlich warteten sie nur darauf, dass das hier zu Ende ging und sie wieder zurück könnten. Zu ihr.
Katharina kam mit ihrem kleinen roten Eimer an und rückte den Stuhl neben seinen. Mit dem Arm schob sie seine Papierfitzel beiseite und legte eine Muschel vor ihn auf den Tisch.

„Hast du so eine große schon Mal gesehen, Papa?“ Beim Lachen zeigte sie ihre weißen Milchzähne. Ohne Frage, ein süßes kleines Ding war sie, seine Tochter.
„Die gibt es nur hier.“ Mehr fiel Robert dazu nicht ein. 
„Ja, die gibt es sonst nirgends.“ Sie strahlte ihn an. „Und guck mal diese hier. Wie die glänzt. So schön braun.“ Sie legte eine weitere daneben. Dann noch eine. Jedes Mal schaute sie erwartungsvoll zu ihm hoch. Allmählich entstand auf der blauen Wachstuchdecke ein Herzmuster aus Muscheln.

„Guck mal, hab ich für dich gemacht.“

„Ja, schön.“
„Papa, eigentlich bist du ja ganz nett. Aber der Jürgen sagt immer, du bezahlst nicht genug für uns.“
Das traf ihn jetzt wie ein Schlag.
„Jürgen? Wer ist Jürgen?“
„Der wohnt doch jetzt bei uns“, krähte die Kleine.

Robert knallte die Bierflasche auf den Tisch. Das war ja interessant. Ein wildfremder Mann in seinem Haus. Nistete sich rotzfrech ein und machte auch noch blöde Sprüche. Saublöde Sprüche. Dieses verdammte Weib war sich doch für nichts zu schade. Vor gar nichts schreckte die Frau zurück. Nicht zu fassen. Das war weit mehr, als er ertragen konnte. Doch er versuchte Haltung zu bewahren.
„Seit wann das denn?“
„Weiß ich nicht mehr genau. Er sagt auch, wir sind jedes Mal ganz durcheinander, wenn wir bei dir waren. Deswegen…“
Das schlug dem Fass den Boden aus. Robert sah rot. Er kannte sich selbst nicht mehr. Ja nicht ausrasten, dachte er und rannte hinaus an den Strand.

Als er zurückkam, saßen die Kinder ganz still auf dem Fußboden. Sie hatten ihre Malsachen geholt. Paul malte große schwarze Vögel mit langen Schnäbeln und Katharina ein Haus und Palmen, einen Mann und zwei Kinder. Robert holte ein Bier aus dem Kühlschrank, ging auf die Terrasse. Mit der Flasche in der Hand starrte er hinaus auf das Meer. Pelikane schwebten in Gruppen über dem Wasser. Einzeln schossen sie im Sturzflug hinunter, tauchten ein und flogen mit ihrer Beute wieder hoch. Jeden Abend dieses gigantische Schauspiel, bis die Sonne feuerrot im Meer unterging. Er stand noch da, als sie ganz verschwunden war und die Konturen am Horizont dunkel wurden, fast schwarz.
Ob die beiden Monster noch malten? Er ging hinein. Ohne Worte waren sie in ihrem Zimmer verschwunden. Er schlich hinein. Jedes lag in seinem Bett und schlief fest. Wie friedlich sie da lagen. Er bezahlte nicht genug. Ha. Dieser Macker musste das ja wissen. Er brachte sie ganz durcheinander. Ha. Ha. Jedes Mal, hatte die Kleine gesagt. Jedes Mal. Was sollte er denn noch alles tun? Auf Knien kriechen, um ihre Liebe bitten? Die er ja doch nicht bekam? Weil sie es nicht wollte. Dieses Weibsstück. Warum kriegte sie alles von ihnen? Woher kam der kalte Hauch?

Graue Wolken zogen schnell, verdeckten den Mond und gaben ihn wieder frei. Er hielt es drinnen nicht mehr aus, ging hinaus an den Strand und lief am Wasser entlang. Das aufgewühlte Meer konnte das Brodeln in seinem Innern nicht übertönen.

Diese falsche Schlange. Alles hatte sie kaputt gemacht. Sein Leben zerstört. Weggeschmissen wie einen alten Fußabtreter. Ausgetauscht.

Ein Mann mit Hund kam ihm in der Dunkelheit entgegen.
Feinde, überall Feinde!
Kalt war es hier. Woher kam die Kälte?

Blonde Haare vor ihm. Weiße Turnschuhe. Eine Joggerin. Sie bemerkte ihn nicht. Er lief hinter ihr her.
Ich krieg dich, du verdammtes Miststück. Jürgen heißt der also. Nimmt der dir nicht die Luft zum Atmen, du Schlampe? Wie macht er das? Kann er dich besser ficken, du Nutte? So ist das also. Und was war auf Sylt? Als ich die Kinder nicht sehen durfte? Meinen Urlaub verschieben musste? Da war Jürgen doch auch dabei. Familie Sonnenschein auf Sylt, schöne Idylle. Und dieses Spielchen soll ich finanzieren, mit meinem Geld? Die Tour werde ich euch vermiesen. Gründlich! Er holte die Frau ein, machte einen Sprung und packte zu. Sie fielen in den Sand. Robert umklammerte sie. Doch sie war stark, drehte sich um und riss an seinen Haaren. Er packte ihre Arme und presste ihren Körper in den nassen Sand. Eine Welle zog ihn mit der Frau ins Wasser. Sie drückte ihn von sich. Er versuchte sie festzuhalten und ihr Gesicht unter Wasser zu tauchen. Sie schlug nach ihm, trat ihm kräftig zwischen die Beine und konnte sich losreißen. Den Schmerz spürte er kaum. Er kämpfte sich aus der Brandung auf den Sand und lief hinter ihr her. Doch sie war schon zu weit weg. In das Tosen hinein brüllte er ihr nach. „Lauf nur weiter mit deinen lächerlich weißen Turnschuhen, du mieses Stück. Das nützt dir gar nichts. Ich krieg dich doch.“

Die Kinder lagen immer noch friedlich in ihren Betten. Paul hatte seinen schwarzen Panther im Arm und Katharina ihren Schnuffelhund. Der Mond schien in ihr Zimmer, warf helle Streifen auf ihre Gesichter. Nein, nein, ihr kleinen Ungeheuer. So unschuldig, wie ihr da liegt, seid ihr nicht. Komplizen seid ihr, Werkzeuge eurer Mutter. Gut abgerichtet. Lange schaute Robert seinen Sohn an. War er nicht ein hübscher Kerl, wenn er schlief? Sah er ihm nicht sogar ähnlich? Schade, dass er so vergiftet war. Er beugte sich zu Katharina hinunter, strich ihr über das Gesicht und die seidigen Haare. Wie weich sie sich anfühlte. So warm. „Meine Süße“, flüsterte er. „Mein Augenstern bist du. Dich könnte ich richtig lieb haben. Nicht weinen, meine Kleine, nicht weinen.“ Er küsste sie auf den Mund. Mit dem Arm wischte er sich die Tränen ab.
 

Jans Vater

Seitdem Jan nicht mehr hier wohnte, war es für Vanessa und Marika langweilig geworden. Er hatte immer die besten Ideen. Mit ihm zusammen konnten sie einen Parcours bauen und um die Wette Fahrrad fahren oder im Feld forschen, Gebüsch und Hecken durchstöbern und vom Sitz im Paradiesbaum die ganze Gegend überblicken. Am meisten Spaß machte das Spurensuchen in der Straße. Sie waren drei Detektive und schlichen zwischen Vorgärten und Autos herum, schauten in Einfahrten, beobachteten Bewegungen an Gardinen und malten sich aus, was hinter spiegelnden Glasscheiben verborgen sein könnte. Jan hatte immer Block und Bleistift dabei, Auffälligkeiten notierte er sofort. Autos mit fremden Kennzeichen zum Beispiel waren verdächtig, da gab es immer einiges zu schreiben, Marke, Typ, Farbe, Nummer. Und wenn ein Fahrzeug nicht auf dem grauen Parkstreifen abgestellt war, schrieb er einen Strafzettel, den er unter den Scheibenwischer klemmte. ‚Falsch parken – 100 Euro Strafe – die Polizei’, stand darauf.
Nun waren die zwei Schwestern ohne ihren Freund auf Spurensuche. Sie schlenderten die Straße entlang, schauten nach rechts und links, doch ohne ihn machte das Detektivspielen gar keinen richtigen Spaß. Vanessa hatte zwar ihr kleines grünes Notizbuch dabei, doch ihnen fiel überhaupt nichts auf.
Vor einer Einfahrt blieben sie stehen. Das Auto von Jans Vater stand da. Er wohnte jetzt allein in dem großen Haus. War das verdächtig? Sie schauten hoch zu Jans Fenster. Wo die Polizeistation aus Legosteinen gestanden hatte, tummelte sich ein Schwarm von Goldfischen zwischen grün leuchtenden Wasserpflanzen.
„Schön bunt, aber längst nicht so schön wie vorher“, meinte Vanessa.
„Wie das jetzt wohl da drinnen aussieht. Jans Papa ist zu Hause. Vielleicht lässt er uns ja rein.“
„Wir können es versuchen.“
„Au ja!“
Marika rannte zur Haustür und drückte auf den Klingelknopf, die große Schwester ging hinterher. Sie stellten sich auf Zehenspitzen, um zwischen Fensterrahmen und Türkranz einen Blick in das Haus zu erhaschen. Alles sah noch genauso aus wie vorher, links die Treppe, rechts der Garderobenschrank, geradeaus die Tür zum Wohnzimmer.
Er kam heraus und öffnete.
„Na ihr zwei Hübschen? Was gibt’s denn?“
„Dürfen wir mal in Jans Zimmer?“, fragte die Kleine.
„Euer Freund wohnt nicht mehr hier. Wisst ihr das denn gar nicht?“
„Doch, er ist mit seiner Mama ausgezogen. Aber wir wollen so gerne die Fische sehen.“
„Ach so! Ja, das könnt ihr. Ihr habt Glück, es ist gerade Fütterungszeit.“
Sie gingen hinter dem Mann die Treppe hoch in Jans Zimmer. Ganz anders sah das jetzt aus. Kahle weiße Wände. In seiner Bettecke stand ein Sofa und gegenüber am Fenster das Aquarium.
„Mir gefallen die mit den roten Flecken am besten“, meinte Marika. „Sind das auch Goldfische?“
„Eine besondere Züchtung“, erklärte Jans Vater.
„So schöne hab ich noch nie gesehen.“
„Dann schaut euch erst mal diese Exoten hier an.“ Er zeigte auf ein größeres Aquarium daneben. „Das sind die richtigen Schönheiten. Normalerweise leben sie im Amazonas, Südamerika, wisst ihr doch.“
Zögernd stellten sich die beiden Mädchen vor die Scheibe des anderen Beckens. Zwei große Fische schwammen darin, dunkel gesprenkelt, fast schwarz, mit roter Bauchseite. Gefährlich sahen sie aus, so lauernd die Augen und besonders ihre Mäuler mit den vorstehenden Unterkiefern.
„Warum sind es nur zwei?“, fragte Marika.
„Es waren einmal sehr viele, die hier sind übrig geblieben“, antwortete der Mann. „Schaut mal, wie sie schwimmen, besonders der große, so frei, so elegant. Wunderbar, findet ihr nicht?“
„Aber warum sind es nur noch zwei?“
„Ach so, ja. Das kennt ihr doch. Die Großen fressen die Kleinen. So ist das in der Natur.“
„Und warum ist der eine kleiner?“
„Fast schon ein Wunder, dass der noch da ist, muss wohl ein Überlebenskünstler sein.“
„Wie sie ihre Mäuler öffnen, als wollten sie jeden Moment etwas verschlingen“, sagte Vanessa. „Und Zähne haben sie auch, ein richtiges Haifischgebiss.“
„Warten sie jetzt auf ihr Futter?“, wollte Marika wissen.
„Ja, ja.“
„Was fressen sie denn?“
„Sagte ich doch, Lebendfutter.“
„Lebendiges Futter?“
„Sozusagen.“ Er nahm einen Käscher zur Hand.
„Nein, bitte nicht!“, flehte die Ältere, als er das Netz in das Goldfischbecken tauchte.
„Halt, das dürfen Sie nicht!“, schrie die Kleine. 
Doch Marikas Protest rührte den Mann ebenso wenig wie das Bitten der Schwester. Er jagte hinter einem der Rotgefleckten her und fing ihn ein. Dann hob er das Netz heraus, hielt es hoch und schaute zu, wie der Fisch sich wand.
„Tun sie ihn schnell wieder rein, bitte.“ Vanessa griff nach dem Stiel und versuchte, ihm den Käscher aus der Hand zu nehmen. Er lachte und hob ihn in eine unerreichbare Höhe.
Als der Fisch nur noch leicht zuckte, ließ er ihn in das Monsterbecken gleiten.
„Es kann ein paar Sekunden dauern, bis sie ihre Beute entdecken, sie sehen nämlich nicht so gut“, erklärte er.
„Hoffentlich entdecken sie ihn nicht.“
„Keine Chance. Die roten Flecken haben eine gewisse Signalwirkung, ähnlich wie Blutstropfen. Raubfische werden von der Beute angelockt, wenn ihr versteht.“
Das wollten sie gar nicht verstehen. Sie wollten nur dem armen Gefangenen helfen. Könnten sie ihn doch von dem gefährlichen Feind wegtreiben!
„Was glaubt ihr denn, wie es im Amazonas zur Sache geht?“
Er legte den Käscher zur Seite, setzte sich auf das Sofa und beobachtete, was passierte. Der größere der beiden Räuber näherte sich langsam dem Gefleckten, mit gierig aufgesperrtem Rachen.
„Seht ihr die Zackenreihe? Wie spitz sie sind, die Beißerchen, und so scharf. Schaut genau hin. Seht ihr, was er macht?“
„Los! Schwimm weg!“, kreischte Marika, als der Große den Kleinen fast berührte.
„Schneller!“, rief Vanessa.
Hatte er das gehört? Er bewegte sich und ergriff plötzlich die Flucht. Das schwarze Monster jagte hinterher. Eine wilde Verfolgung war im Gange, durch das Pflanzengewirr und zwischen Steinen, immer rundherum.
„Du schaffst es“, freute sich die Kleine und zappelte vor Aufregung mit Armen und Beinen.
Doch da hatte es ihn erwischt. Ein weißes Skelett mit ein paar Fetzen daran trudelte zwischen wehendem Wasserfarn auf den schwarzen Sandboden.
Unwillkürlich waren die beiden Mädchen zurückgewichen, starr vor Schreck, konnten es nicht fassen. Wie hatten sie gehofft, der Arme würde es schaffen. Doch zu schnell war der Verfolger, zu scharf die Zähne, zu groß das Maul.
Der kleinere Schwarze kam aus der Ecke und machte sich über die Reste der Beute her, während der andere, nun etwas behäbiger, doch immer noch gierig, seine Runden drehte.
„Ein wunderbares Exemplar“, schwärmte der Mann. „Wie elegant er schwebt. Ich kann mich nicht satt sehen. Herrlich, nicht wahr?“
„Mir ist schlecht, ich brauche Luft. Komm.“ Vanessa nahm ihre kleine Schwester an die Hand.
„So elegant“, flüsterte der Mann.
Er bemerkte gar nicht, wie die beiden Mädchen hinausgingen auf die Straße.
„Schnell weg hier!“ 
Sie rannten, bis sie ihre Haustür erreichten.
„Hast du die Augen von dem Mann gesehen?“, fragte Marika. „Wie der geguckt hat! Der sah ganz anders aus, gar nicht mehr wie Jans Papa.“
Vanessa hatte ihr grünes Buch aufgeschlagen, den Bleistift in der Hand und begann zu schreiben.
„Tiere quälen, hunderttausend Euro Strafe und Aquarienverbot, die Polizei“, las sie ihrer Schwester vor.
„Hundert Millionen“, protestierte die Kleine, „Und Gefängnis und nix zu essen, für immer und ewig.“
 

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