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Faust oder Werther

Über seine Mutter hatten wir nie gesprochen. Jetzt, da sie hochbetagt gestorben ist, erinnere ich mich an eine dunkle, kräftige Frau, mit Hausarbeit beschäftigt. Sie stand zwischen ihm und mir. Er redete viel über katholische Sonntagspflichten, wie seine Mutter sie sehen wollte. Sie war fleißig und redlich, wurde nicht kritisiert, saß jeden Sonntag mit frommem Gesicht in der Kirche. Seinen Vater hat sie um Jahrzehnte überlebt. Ihre Nachkommen stehen jetzt nach all den Jahren an ihrem Grab und machen sich noch Mal Gedanken über ihre katholische Kindheit. Sie, die heilige Familie in der kleinen Wohnung über der Kneipe. Er, die Intelligenzbestie, der absolut Überlegene, der trauernde Sohn in der Todesanzeige im Lokalteil, kein bisschen berühmt.
Wie wird er jetzt aussehen? Klein ist er natürlich immer noch. Hat er noch diesen verträumten Blick ohne Zeit und Raum und den sinnlichen Mund? Hat sein Verstand noch nicht an Schärfe verloren? Wer ist die Frau an seiner Seite? Wovon lebt er? Bei der Intelligenz muss er doch reich wie verrückt geworden sein. Im Internet fand ich unter seinem Nachnamen nur drei Einträge. Sein Name ist nicht dabei. Ach, vielleicht hat er eine berühmte und reiche Frau. Ich guck mal nach ihrem Namen im Internet. Da finde ich was von einem Professor gleichen Nachnamens in einer philosophischen Fakultät Herr Professor zitiert auf der Homepage:

"Poetische Erdichtung und Wahrheit: Wozu nützt die ganze Erdichtung? -- Ich will es dir sagen, Leser, sagst du mir, wozu die Wirklichkeit nützt. (Goethe, Xenien)".

Da haben wirs, passt doch genau, er lebt immer noch in den virtuellen literarischen Philosophiewelten der frühen Jahre. Seinerzeit maßte er sich an mich nicht ernstzunehmen, der Unschuldige. Die Prinzessin aus "Torquato Tasso" sollte ich sein, rein und klug, wie verlockend. Er war natürlich Faust, das war klar. Manchmal auch Werther, leidend, nicht zeigend.

 

©Renate Hupfeld

 

Inhalt: Stärker als Eis