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Warum sehen sie so normal aus?

 

Auf dem Parkplatz an der Einfahrt zum Gelände des alten Rittergutes stellt Carla ihr Auto ab. Schule in der Klinik für Jugendpsychiatrie. Hier arbeitet sie seit vielen Jahren. Einige Jungen und Mädchen sind schon Zigarette rauchend in Richtung Schulgebäude unterwegs. Warum sehen sie eigentlich so normal aus, denkt Carla. Ihre Lerngruppe besteht aus fünf  intelligenten jungen Menschen. Punkt acht Uhr sitzen sie an ihren Tischen, die Blicke auf Carla gerichtet. „Diderich  – ein durchtriebenes Kind“ steht an der Wandtafel. Textausschnitte aus einem Roman von Heinrich Mann werden untersucht. Starker Vater, schwache Mutter. Das Kind hat Lustgefühle, wenn der Vater es verprügelt. Finden die Schüler heraus.

Kurz vor Ende der Deutschstunde wird die Tür des Klassenraumes geöffnet. Stefan. Blick in die Ferne gerichtet. Carla wundert sich über sein Outfit, billige Jeans und Anorak. Ganz anders als während der Klassenfahrt vor einigen Wochen. Wintersport im Allgäu. Alle bestaunten seinen großen Koffer mit feinen Klamotten. Sie selbst hatte sich ein Kashmere Sakko für einen Restaurant Besuch bei ihm geliehen. Angeblich Geschenk seiner Mutter.

Carla beendet die Unterrichtsstunde und schickt die Schüler in die Pause. Stefan bleibt zurück. Er dreht ihr den Rücken zu und schaut in den Park mit den hohen Bäumen. So wird sie diesen hübschen Jungen in Erinnerung behalten. Später wird sie Bilder betrachten und feststellen, dass er auf fast allen ihren Fotos zu sehen ist. Bei der Wanderung im Schneetreiben. Zusammen mit ihr im Ankerlift. Geschminktes Gesicht am Abschlussabend. Eine Seite weiß, eine Seite schwarz.

Ich will wieder in die Schule.

Wenn du clean bist, kannst du kommen.

Da ist alles, was es im Moment zu sagen gibt.

Er geht.

„Diderichs Entwicklung zum Untertan“ schreibt Carla am nächsten Morgen an die Tafel. Sie gibt den Schülern ein Arbeitsblatt mit Aufgaben und Hinweisen. Während die Gruppe arbeitet, klingelt das Telefon. Carla spürt ihre Kräfte schwinden. Was hätte sie tun können? 

Renate Hupfeld 08/2002

 

Inhalt: Warum sehen sie so normal aus?