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Faust  oder Werther

 

Seine Mutter war fleißig und redlich. Eine dunkle, kräftige Frau, mit Hausarbeit beschäftigt. Saß jeden Sonntag mit frommem Gesicht in der Kirche. Im Namen des Vaters, des Sohnes und....

 

Fest soll mein Taufbund immer stehen

Summt es durch meinen Kopf

Ich will die Kirche hören

Ich war ungeheuer berührt

Sie soll mich allzeit gläubig sehen

War kein Problem als Kind

Und folgsam ihren Lehren

Wegen Heuchelei nicht einzuhalten

 

Über sie wurde nie kritisch gesprochen. Er redete viel über katholische Sonntagspflichten, wie seine Mutter sie sehen wollte. Auch ich sollte jeden Sonntag mit frommem Gesicht in der Kirche sitzen. Endlose Diskussionen ohne Ergebnis.

 

Jetzt ist er der trauernde Sohn im Lokalteil der Tageszeitung. Wie wird er aussehen? Klein ist er natürlich immer noch. Hat er noch diesen verklärten Blick ohne Zeit und Raum und den sinnlichen Mund? Hat sein Verstand noch nicht an Schärfe verloren? Wer ist die Frau an seiner Seite?

 

Unser Abend im Stadttheater. Er wollte unbedingt dahin. Torquato Tasso. Wir waren hingerissen von dem intelligenten Jüngling, den in seinem Traumgarten,  umgeben von schönen Frauen, die Muse küsste. Danach redete er oft von Tasso wie von einem Freund. Auch ich fand diesen sanften Prinzen wundervoll. Wir wollten so sein wie er. Frei von täglichen Pflichten, in wunderschönen Gärten wandeln, philosophieren, schreiben und malen. Erst später merkte ich, dass er alles ganz anders sah. Nur er war Tasso. Ich sollte die Prinzessin sein, seine Gespielin, rein und klug. Wir redeten stundenlang über die Protagonisten von Goethe. Faust und Werther lagen ihm auch sehr am Herzen. Als ich Faust als Macho darstellte, der Gretchen verführt und schwängert. Und sie im Namen Gottes in dem Schlamassel allein lässt. Der anstatt ihr zu helfen seine Selbstverwirklichung anstrebt, war er mit seiner Geduld am Ende.

 

Seine Mutter, die er nie kritisierte, ist mit siebenundachtzig Jahren gestorben. Seinen Vater hat sie um Jahrzehnte überlebt. Ein kleiner zierlicher Mann, der nie viel redete und immer ein wenig verträumt wirkte. Ihre Nachkommen stehen nach all den Jahren am Grab und machen sich vielleicht noch Mal Gedanken über ihre katholische Kindheit. Sie, die heilige Familie in der kleinen Wohnung über der Kneipe.

 

 

(ein Fragment)

©Renate Hupfeld

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