home
 

 

 

Eispalast
 

Mit einem leichten Ruck setzte sich die Gondel der Gletscherbahn in Bewegung. Nikolas zappelte auf seinem Sitz und hämmerte er mit den Skischuhen gegen die blecherne Tür. Ungeduldig schaute er hinunter auf die Piste und seine  Augen strahlten mit dem Blau des Himmels um die Wette. Aber je näher sie der Bergstation kamen, desto schlechter wurde die Sicht. Die Felsungetüme rechts und links der Trasse waren nur noch undeutlich zu erkennen. Phillis beobachtete besorgt die Nebelbildung. Ob es ein Fehler war, mit ihrem kleinen Draufgänger noch einmal hochzufahren? Sie musste streng darauf drängen, dass er nachher bei der Abfahrt ganz dicht bei ihr bliebe.
     „Mama, wir müssten doch schon längst oben sein.“
     Jetzt fiel es ihr auch auf. Merkwürdig still war es. Wie lange war das Seil schon nicht mehr über die Räder an einem Liftpfosten gerattert? Doch als Skifahrer war man es gewöhnt, dass man in einer Bergbahn zwischen Himmel und Erde schwebte und ungewöhnlich war es nicht, dass die Bahn mal stehen blieb. Nur der Nebel gefiel ihr nicht und jetzt mischten sich auch noch Schneeflocken hinein. Dennoch atmete sie auf, als sich das Seil wieder in Bewegung setzte. Endlich kam auch der Ausstieg. Als sie die Gondel verließen, konnte man kaum die Hand vor den Augen sehen. Die Liftmasten waren sofort vom Nebel verschluckt. Jetzt war auch Niklas plötzlich im Schneetreiben verschwunden. Er konnte doch nicht weit weg sein.
    
„Nikki, wo bist du denn?“, rief Phillis, aber da kam keine Antwort. Ihr Herz raste bis zum Hals. Wo war ihr Kind? Ohne Orientierung tastete sie sich durch den frischen Schnee und rief nach ihm, immer wieder. Es blieb still. Sie verlor das Gleichgewicht, hatte das Gefühl, kopfüber den Hang hinunterzukugeln. Oder hinauf? Hinauf, hinunter, hinauf ... 
          
     Plötzlich fühlte sie leichte Bewegungen ganz nahe an ihrem Körper. Eisige Nebelschwaden zogen durch ihr Gesicht. Um sie herum war immer noch endlos weites Schneeland. Doch was war das? Sie schien über dem Boden zu schweben. Weiße Wesen mit Masken aus Eis trugen sie fort, immer schneller, immer weiter. Sie flogen mit unsichtbaren Flügeln. Wohin ging die Fahrt?
     Am Horizont waren Umrisse zu erkennen. Eine Burg mitten im Eis? Beim Näherkommen erkannte sie einen riesigen Kegel, weiß glitzernd. Sie schwebte auf ihn zu und wurde vor einem gewaltigen Eingangsportal abgesetzt. Dann waren ihre kleinen Träger so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen waren.
     Es zog sie hinein in den Eispalast. Vorsichtig tastete sie sich vorwärts. Ein schwarzer Schleier streifte ihr Gesicht. Wie ein Schlag traf sie die Dunkelheit und schnürte sie ein wie eine schwarze Haut. Sie wollte sich umdrehen. Aber wonach? Alles um sie herum war schwarz. Sie wollte schreien. Nie war eine Stille so still. 
     Stand sie noch auf ihren Beinen? Sie horchte. Nur das leise Scharren ihrer Füße war zu hören. Der Boden war glatt. Kälte kroch an ihr hoch. Langsam richtete sie den gekrümmten Oberkörper auf. Beim Kopfdrehen spürte sie einen leichten Luftzug. Schwankte sie?
     Ha! Was berührte sie da? Ein Hauch. Sie wollte sich wehren. Aber wie?
     Etwas Leichtes lag auf ihrer linken Schulter. Sie tastete danach. Eine Hand, so weich und warm. Sie hielt sie fest umklammert.
     "Ich bin Lilian", sagte eine sanfte Frauenstimme.
 

 

(Wird fortgesetzt)

 

Monatstexte (Archiv)

©Renate Hupfeld