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Facetten des Blues
Renate Hupfeld
Auf dem Weg über den Parkplatz flatterten mir die
Blätter um die Beine, schön bunt, doch gar nicht lustig, verbesserten
meine Laune keinesfalls. Die war nämlich grauer als grau. Dunkelstgrau.
Der Blues. Ja, das war er, ließ sich nicht abschütteln. Andere hatten
wenigstens um diese Jahreszeit einen Dämon, ich hatte nur diesen Blues
in allen möglichen Facetten, musste jetzt womöglich wieder wochenlang
mit ihm herumlaufen, mal dem Wetter-Geht-Mir-Auf-Den-Keks-Blues, dann
dem Ist-alles-nicht-mehr-wie-früher-Blues und eben in diesem Moment mit
dem Erinnere-mich-nicht-an-den-Tanz-Blues. Niemandem hatte ich die
Gruselstory erzählt, mir würde sie ohnehin niemand glauben. Wie ich nur
so dusselig sein konnte und dieser Ausgeburt von Raffinesse auf den Leim
gehen, der Frau, die überhaupt nicht tanzen konnte und wie ein hölzernes
Gerät über die Fläche geschoben, gezogen und gezerrt werden musste,
selbst beim allereinfachsten Blues. Dieses Tanzgerät entpuppte sich als
hinterlistiges Miststück, wollte mir weismachen, mich aus einem früheren
Leben zu kennen, erzählte mir was von einem weißen Schimmel, den ich
abends unter einer Weide am Fluss abgeholt hätte und auf dem ich
fortgeritten wäre und behauptete, am Ende der Straße zu wohnen. Dort war
jedoch kein Haus, wie ich eigentlich hätte wissen müssen, ich Depp. Und
mir war es noch immer ein Rätsel, mit welchen Mitteln sie es geschafft
hatte, mich an der Nase herumzuführen. Also, am Ende der Straße war
nämlich der Friedhof. Dahin hatte sie mich gelockt, mitten in der Nacht.
Naiv, wie ich war, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, auf das
Gräberfeld zu schleichen, natürlich bei Vollmond, versteht sich. Über
der Leichenhalle stand der und warf einen riesigen Schatten auf den Weg
zwischen den Bäumen. Und da! Ich traute meinen Augen nicht. Vor dem
Portal wartete schon ebendiese Bluestanzfrau auf mich, fixierte mich mit
saugendem blauem Blick und schwebte auf mich zu. Wahnsinnig verlockend
sah sie aus in dem sachte wehenden, silbrigglänzenden Gewand. Ihr
Lächeln war hinreißend.
„Da bist du ja endlich“, flüsterte sie. „Wie ich mich nach dir gesehnt
habe!“
Ein kalter Hauch berührte mich, als sie die Hände nach mir ausstreckte.
„Warum bist du hier?“, stotterte ich.
„Deinetwegen.“
Ich verstand nichts mehr.
„Von weit her bin ich gekommen.“
„Aber wir haben doch gerade erst miteinander ...“
„Ja, ja“, hauchte sie. „Es war so schön.“
„Ich verstehe nicht.“
„Lass uns fliegen.“
„Wie das denn?“
Mir wurde schwummerig. Wäre ich doch niemals hierher gekommen, auf
diesen Gottesacker!
„Fliegen. Nur wir zwei“, fuhr sie fort.
„Du bist doch tot, sonst könntest du nicht … sonst wärest du nicht
hier.“
Oder doch? Mich schauderte. Ich wollte weglaufen, kam aber nicht von der
Stelle.
„Ich sehne mich nach deiner Wärme.“
Ganz leise war ihre Stimme.
„Umarme mich.“
Ich ging einen Schritt zurück.
„Drück mich an deinen Körper, bitte“, flehte sie und kam näher.
„Ich kann nicht.“
„Doch, du kannst.“
„Lass mich gehen!“, wehrte ich ab.
„Warum willst du vor mir fliehen?“
„Ich bin noch nicht so weit.“
„Begreife doch, mein Liebling.“
„Was soll ich begreifen?“
„Ich will dich nicht hinüberziehen. Du kommst freiwillig.“
„Nein, es geht nicht.“
„Wir werden glücklich sein.“
„Nein!“
„Lieben will ich dich, damit du nicht mehr traurig bist.“
„Was meinst du?“
„Nur ab und zu. Dann bin ich auch nicht mehr traurig.“
„Nein, nein. Ich muss jetzt gehen.“
Ich tastete mich rückwärts. Voller Sehnsucht sah sie mich an, folgte mir
mit ausgestreckten Armen und ihrem unwiderstehlichen Lächeln. Je
schneller ich mich fortbewegte, desto näher kam sie. Ich wagte nicht,
mich wegzudrehen und ging Schritt für Schritt weiter, so schnell ich
konnte, bis mein pochender Schädel an etwas Hartes stieß.
Das Friedhofstor.
‚Das verdammte Weib aus jener Sommernacht verfolgt mich doch noch
immer’, dachte ich.
Dabei kannte ich die Bluestanzfrau inzwischen ganz anders. Vom
Esoteriktrip hatte ich sie heruntergeholt und sie hatte mir beigebracht,
wie ich auch mit einer unbegabten Tänzerin Blues tanzen konnte.
Ich ging durch die Blätterallee, den Weg zwischen den Gräberreihen, den
meine Beine schon fast automatisch machten, mit oder ohne die gelbe
Gießkanne, denn gelb mochte sie, die üblichen grünen lehnte sie ab.
Heute bei dem useligen Wetter also ohne Gießkanne. Am Wasserbecken
vorbei nach links, drei Gräber weiter, dann wieder nach links zum weißen
Marmorgrabstein mit dem Bild, oval gerahmt, wie sie es gewünscht hatte,
nach ihren Vorgaben über dem dunkelgrauen Schriftzug platziert. Ja, die
weißhaarige Frau da auf dem Foto war sie, wie sie leibte und lebte,
hatte ja nur noch mich, ihren Augenstern, so nannte sie mich oft, das
Beste, was ihr in ihrem Leben passieren konnte, das Allerbeste, ihr Eins
und Alles. Ihr Lächeln sollte mir erhalten bleiben, ein Lächeln, das nie
vergehen würde. Nur für mich. Unwiderstehlich.
„Wie läufst du denn wieder herum, Junge? Ohne Jacke. Du wirst dich
erkälten. Zieh dich beim nächsten Mal warm an. Denk auch an den Schal.
Du weißt doch, die kalte Jahreszeit hat’s in sich.“
„Ja, Mama.“
„Und deine Haare. Wie das aussieht! Geh mal wieder zum Frisör.“
„Jaha.“
„Gegessen hast du auch noch nichts. Ich sehe es dir doch an. Wie oft
muss ich dir das noch sagen? Du treibst Raubbau mit deiner Gesundheit.
Kein Gramm zugenommen hast du seit dem letzten Mal, eher sogar
abgenommen, so blass, wie du wieder bist. Wann wirst du denn endlich
erwachsen?“
Ich hatte ausgiebig gefrühstückt, mit Lachs, Käse, Schinken, Gürkchen,
Tomaten, Radieschen und einem traumhaften Müsli. Nicht allein. Und das
würde ich jetzt immer so machen. Immer so, wie ich das wollte. Genau so.
Doch das musste ich ihr ja nicht erzählen.
„Schau, Mama, heute zünde ich drei Kerzen für dich an, damit du dich
freust, okay?“
Sie blieb stumm.
„Dann bis zum nächsten Mal, Mama.“
Auf dem Weg zum Auto wurde der Grablichterblues in meinem Kopf immer
leiser, bis er gar nicht mehr zu hören war.
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