|
Märztag in Deutschland
Eine Zeitreise in das Jahr 1848
Was für eine
Überraschung! Der kleine Chip mit dem TTT-Hologramm glänzte silbern in
meiner Hand. ‚Time Travel Terminal - Reise in die Achtundvierziger’, stand
darauf.
„Wahnsinn, Jannis. Eine Fahrt in das 19.
Jahrhundert. Das ist ja, das ist …“
„Beruhige dich, Maleen. Dreißig wird man
nicht alle Tage. Da kann es auch mal ein besonderes Geschenk sein.“
Ich war sprachlos und nahm einen Schluck
von meinem morgendlichen Milchkaffee. Dann beugte ich mich hinüber zu
Jannis, der mich erwartungsvoll anschaute, und gab ihm einen dicken Kuss.
Er nahm mich in den Arm.
„Liebes, ich weiß doch, dass du im
Jubiläumsjahr dein Buch über die deutsche Revolution fertig haben willst.
Aufbruch in Deutschland. An diesem strahlenden Märztag des Jahres 1848 waren
alle deine Protagonisten in Frankfurt.“
„Julius Fröbel. Wenn ich den treffen würde
… oder Friedrich Hecker … krasse Typen.“
„Wie meinst du das?“ Mein Mann schaute ein
wenig irritiert.
„Was ist denn los, Jannis? Diese Männer
waren vor zwei Jahrhunderten ungefähr so alt wie du jetzt. Vor zweihundert
Jahren, hörst du?“ Ich strich ihm über die Haare. „Wann soll die Tour
losgehen?“
„Der nächste Timetrain in die
Achtundvierziger geht in zwei Wochen, am 27. Dezember 2046. Du kannst aber
auch später reisen.“
„Je eher, desto besser“, sagte ich.
„Dann mache ich gleich alles perfekt.“
Jannis eilte an seinen Computer.
Ich ging ans Fenster und betrachtete den
grauen Himmel und die kahlen Bäume in unserer Allee. Wer hätte vor einigen
Jahren gedacht, dass diese Technik sich so rasant entwickeln würde und
innerhalb kürzester Zeit überall im Lande Time Travel Terminals angesiedelt
sein würden. Von Zeitschleifen und künstlichen Wurmlöchern hatte ich zwar
keine Ahnung, aber musste ich das denn? Bewegte ich mich doch auch im World
Wide Web ohne genau zu wissen, wie das Internet funktionierte. Ich musste an
einen Ausspruch meiner Großmutter denken und insgeheim schmunzeln: „Das
World Wide Web ist ein Quantensprung wie vor Jahrhunderten die Erfindung des
Buchdrucks.“ Wenn sie das TTT noch erlebt hätte! Es war ein Quantensprung
wie im 20. Jahrhundert das WWW.
Der Reisetermin war gekommen. Jannis
begleitete mich zum Check-in im uralten Gasometer.
„Pass gut auf dich auf, Maleen. Du weißt,
es waren unruhige Zeiten damals. Ein falsches Wort kann böse Folgen haben.“
„Ach, du Lieber, wem erzählst du das. Als
hätte ich nicht genug recherchiert. In jenen Märztagen des Vorparlamentes
waren die Zeiten so liberal wie danach Jahrzehnte lang nicht mehr. Mach dir
keine Sorgen. Ich bin kein Revolutionär.“
„Sondern eine junge Frau aus dem Volke“,
ergänzte Jannis. „Auch das kann gefährlich sein. Sei nicht zu … ich meine …“
„Kokett? Wo denkst du hin?“
„Machs gut, Maleen. Ich warte hier im
Coffeeshop auf dich.“
Heftiges Herzklopfen, ein langer
Abschiedskuss, dann begab ich mich an den TTT-Schalter, wo mich eine nette
Dame begrüßte.
„Ihr Timetrain geht in einer knappen
Stunde. Passende Kleidung finden Sie in der Zeitschleuse. Legen Sie Ihre
Sachen einschließlich Geldbörse, Armbanduhr und Handy in die bereitgestellte
Box“, sagte sie und brachte mich in einen Raum mit einem gut bestückten
Kleiderständer.
Ich wusste, was eine Frau aus dem Volke vor zweihundert Jahren getragen
hatte und fand schnell das Richtige heraus. Nachdem ich mich ausgezogen
hatte, streifte ich zunächst eine weiße Leinenunterhose und ein Unterhemd
über, ein bisschen groß, aber ich würde mich daran gewöhnen. Ein Korsett kam
für mich nicht in Frage, ich war schlank und knackig. Der lange braune Rock
musste mit einem Gürtel auf der Hüfte gehalten werden. Darüber zog ich eine
hübsche beigefarbene Leinenbluse und drapierte mir ein großes hellblaues
Tuch um die Schultern. Mit Knöpfstiefeln an den Füßen verließ ich durch die
andere Tür die Zeitschleuse.
In diesem Raum wartete ein Mann mit
TTT-Plakette an der Brust auf mich. Er überprüfte mein Outfit und war
sichtlich zufrieden. Dann überreichte er mir eine wunderbare altertümliche
Taschenuhr und einen kleinen Lederbeutel mit Schnüren. Meinen silbernen Chip
sollte ich in den Schlitz an der Seite des Uhrgehäuses stecken. Das machte
ich und im gleichen Moment leuchtete das Display auf.
„Dieses Gerät zeigt nicht nur die Uhrzeit
in den Achtundvierzigern an, sondern es ist auch ihr Navigationssystem für
die Reise“, erklärte er. „Sind Sie bereit?“
„Ja“, antwortete ich, befestigte den
Lederbeutel am Gürtel und ließ die Taschenuhr hineingleiten.
„Kommen Sie mit“, er führte mich durch
einen schmalen Gang, der in einer schwach beleuchteten Kabine endete, gerade
groß genug für den schwarzen Sitz mit hohen, steilen Lehnen. Ein bisschen
wie ein Käfig sah das Ding aus. Ich setzte mich hinein.
„Achtung!“ Im gleichen Moment wurde ich
hart eingezwängt und zwar so heftig, dass ich mich keinen Millimeter mehr
bewegen konnte. Meine Arme, Schultern und Beine wurden mit ruckartigen
Bewegungen von allen Seiten fixiert. Unerträglich eng war es. Ich fürchtete
eingequetscht zu werden. Dann bekam ich auch noch etwas über den Kopf
gestülpt, das sich anfühlte wie ein Motorradhelm und sich langsam so eng um
meinen Schädel schloss, dass es ihn zu zerdrücken drohte. Panik machte sich
breit, das Atmen fiel mir schwer. Ich konnte nur noch den Mund bewegen und
die Augen rollen, was ich auch ständig ausprobierte.
Wie sollte ich hier jemals wieder heraus
kommen?
Ich hatte nicht lange Zeit zum Nachdenken, denn mein Sitz begann zu
vibrieren, erst sachte, dann immer heftiger. Die Vibration ging in eine
Drehbewegung über, rasend schnell rotierte ich, begleitet von
psychedelischem Flackern in unbeschreiblich schneller Folge. Als ich dann
auch noch wie in einer rasanten Achterbahnfahrt steil hinauf und im freien
Fall hinunter befördert wurde, immer wieder, endlos lange, bei gleichzeitig
unglaublich schneller Rotation, wurde mir kotzübel.
Die Kabinentür stand offen, als ich wieder
zu mir kam. Eine Hand streckte sich mir entgegen. Ich wankte hinaus und
konnte kaum stehen.
„Alles okay?“, fragte eine Stimme.
„Es geht schon“, sagte ich und erst jetzt
entdeckte ich, dass die Stimme zu einem gut aussehenden Mann mit dunklen,
halblangen Haaren und TTT-Anstecker gehörte. Er zeigte auf das Ende des
Ganges, in dem wir standen.
„Der Ausgang führt in einen Wald. Folgen
Sie den Anweisungen auf dem Display ihrer Taschenuhr.“
Ich trat hinaus und befand mich in einem
Dickicht unter Bäumen. Nach ein paar Metern schaute ich mich noch einmal um.
Nichts Auffälliges war zu sehen.
Nach den Anweisungen auf dem Display
wanderte ich los und war nach einer guten halben Stunde am Rande des Waldes
auf einer kleinen Anhöhe angelangt.
Meine Augen mussten sich langsam an die
helle Morgensonne gewöhnen. Frühlingsgrüne Wiesen und blühende Bäume
breiteten sich vor mir aus. In einiger Entfernung lagen links und rechts des
Mains die Häuser der Stadt Frankfurt. Die beiden Ufer waren verbunden durch
die majestätische Steinbrücke mit der markanten Bogenreihe, wie ich sie von
historischen Abbildungen kannte. Auf dem Fluss wimmelte es von
Dampfschiffen, Segelbooten und Kähnen. Menschen pilgerten von Anlegestellen
her hinauf in die Stadt, wo der mächtige Turm des Domes in den strahlend
blauen Himmel ragte.
‚10:16’, stand auf meinem Display und
darunter: ‚Jetzt haben Sie sechs Stunden und 44 Minuten zu Ihrer freien
Verfügung’.
Nachdem ich die Taschenuhr im Lederbeutel
verstaut hatte, ging ich in östlicher Richtung auf einem holprigen Pfad und
erreichte die ersten prächtig geschmückten Häuser. Es wurde eng auf dem
Kopfsteinpflaster der Straßen und Gassen. Ich bewegte mich mitten im Strom
der Menschen, wurde eingehakt, freundlich angelächelt und einfach
mitgezogen. Ein tolles Gefühl. Die Stimmung war überwältigend. Freiheit lag
in der Luft, Freude auf den Gesichtern.
Wir erreichten den Platz vor dem Römer. An
den imposanten Gebäuden wehten schwarzrotgelbe Fahnen im Sonnenschein. Hier
standen die Männer der Nationalgarde in ihren blauen, goldgeschmückten
Uniformen und die Jungen der Turnergarde ganz in Weiß mit breitkrempigen
Hüten, bereit zum Spalier für den Zug der Abgeordneten.
Ich ließ mich mittreiben in Richtung
Paulskirche, wo die klügsten Köpfe des Volkes für ein besseres Deutschland
kämpfen würden. Vor einer Art Holzbühne hatte sich eine Ansammlung von
überwiegend jugendlichen Zuhörern gebildet. Ihre Augen hingen am Mund eines
Redners, der mit seinen langen blonden Haaren und den ausdrucksvollen Augen
nicht nur glänzend aussah, sondern mit einem Feuer sprach, dem auch ich mich
nicht entziehen konnte.
„Er sieht aus wie Christus“, sagte eine
Frauenstimme hinter mir.
„Hecker ist der Beste. Hecker, Hecker“,
rief einer und alle stimmten ein.
„Das Heckerlied …“, tönte es in der Menge
und im Nu war ein gemeinschaftlicher Gesang im Gange:
„Wenn die Leute fragen,
Lebt der Hecker noch,
Sollt ihr ihnen sagen,
Ja, er lebt noch…“
Eine Mandoline ertönte dazu.
Bei der zweiten Strophe konnte ich den
Refrain mitsingen:
„Er hängt an keinem Baume,
Er hängt an keinem Strick,
Sondern an dem Traume
Der deutschen Republik.“
Viele begannen wie wild zu tanzen. Eine
junge Frau nahm meine Hände und ich wirbelte glücklich mit, immer rundherum.
Wieder und wieder ertönte das „Ja, er lebt noch …“ Wir bekamen nicht genug
vom Singen und Tanzen. Es war wie ein Sog, der mich unwiderstehlich mitriss.
Urplötzlich durchfuhr es mich wie ein Blitz
bis in die äußersten Haarspitzen: Mein Lederbeutel war verschwunden. Ich
stand da wie erstarrt und konnte es nicht fassen.
„Was hat dir denn den Tanz vergällt?“,
fragte ein junger Bursche mit Federhut.
„Ach, mein Lederbeutel ist verschwunden und
meine ...“ Er half mir beim Suchen in dem Gewirr von Beinen und Füßen.
Vergeblich. Er ging sogar mit mir den mühsamen Weg gegen den Menschenstrom
zurück zum Römerberg. Es war aussichtslos. Wie sollte ich in diesem Trubel
mein Navigationsgerät finden? Die ganze Zeit redete der Federhütler auf mich
ein, doch ich reagierte gar nicht mehr darauf.
Ich irrte durch die Menge.
Was sollte ich nur tun?
Wie von fremder Hand gezogen, ging ich den
Weg aus der Stadt hinaus. Dabei suchte ich unentwegt den Boden ab. Das
verdammte Ding blieb verschwunden.
Ich hatte keine Ahnung, wie spät es
inzwischen war. Die Sonne stand schon im Westen, aber noch ziemlich hoch am
Himmel. Vor mir lag die Anhöhe, ich ging hinauf. Doch ohne
Orientierungshilfe würde ich niemals den Weg durch den Wald zurückfinden.
Und kein Mensch weit und breit konnte mir helfen. Ich setzte mich auf einen
Baumstamm und weinte.
„Hallo“, hörte ich nach einer Weile. Jemand
klopfte mir ungeduldig auf die Schulter. Ich schaute hoch. Es war der
hübsche Dunkelhaarige vom Timetrain, bekleidet mit brauner Hose und
Leinenhemd, jetzt ohne TTT-Plakette.
„Hier, nehmen Sie.“ Er gab mir meinen
verlorenen Schatz zurück. „Kommen Sie schnell“, fuhr er hektisch fort.
„Siebzehn Uhr ist zwar vorbei, aber wenn wir uns beeilen, schaffen wir es
rechtzeitig.“
Wir hetzten los und atemlos erzählte er
mir, wie ein Alarmsignal bei ihm angekommen und er in die Stadt gerannt
wäre. Sein Navigationsgerät hätte ihn zu einem Burschen mit Federhut und
meiner Taschenuhr in der Hand geführt. Plötzlich hätte das Ding so heftig
vibriert, dass er es auf den Boden geschmissen und mit schreckgeweiteten
Augen angestarrt hätte. Danach wäre der Bursche weggerannt.
Weiß der Teufel, welchen Sensoren ich meine
Rettung zu verdanken hatte. Jedenfalls war alles gut gegangen.
„Man kann dich wohl doch nicht alleine in
die Vergangenheit reisen lassen“, sagte Jannis, nachdem ich ihm alles
erzählt hatte. „Wenn du dein Buch geschrieben hast, machen wir gemeinsam
eine Reise mit dem Timetrain in das 20. Jahrhundert. Die Neunundachtziger
sind im Programm: ‚Wir sind das Volk’.“
(Die kursiv
formatierten Textstellen sind Zitate aus dem „Heckerlied“,
überliefert aus dem Jahre 1847.)
©Renate Hupfeld
Ich freue mich über
Kommentare
Monatstexte
(Archiv)
Bücherflohmarkt
|
|