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Sie leben in der Zukunft und reisen in die Vergangenheit, verarbeiten den Novemberblues auf dem Friedhof und den Vorweihnachtsstress in der Einkaufmeile, hetzen durch die Bahnhofshalle und begegnen seltsamen Wesen. Wer hinter die Fassaden schaut, ist überrascht, erfreut, betroffen, irritiert oder schockiert. Außerdem ist es durchaus interessant zu erfahren, wie sieben Tiere auf den Marktplatz gekommen sind und dass man im Jahre 2048 am Stadtsee auf der Uferpromenade bummeln und im Seaside Center für eine ganz besondere Reise einchecken kann. Elf Geschichten aus Hamm oder einem anderen Ort mit Kirchturm, Bahnhof und Fußgängerzone.

 
     
  Leseprobe:  
 

 

Woher weiß der ihren Namen? Vielleicht kein Zufall, dass gerade ihr das passiert. Wo zum Teufel hat sie mit ihm zu tun gehabt? Sie fixiert ihn. Der hinterhältige Blick? Nein, dieser Kerl ist ihr unbekannt.
„Zu Basti fällt dir also nichts ein. Du hast aber ein schlechtes Gedächtnis. Ich kam damals zu dir, weil meine kleine Schwester…Ich meine, weil ihr Lehrer…Dieses Arschloch hatte es immer nur auf mich abgesehen, brauchte ein schwarzes Schaf. Der Spinner hat mir doch die ganze Scheiße eingebrockt. Ich sehe, du peilst es immer noch nicht. Dann muss ich dir wohl auf die Sprünge helfen.“ 
Er nestelt an seiner Hose und fährt mit der Hand in den Hosenschlitz.
„Also, es war einmal ein Junge. Der machte es jeden Tag mit…Willsten sehn, den Kleinen?“
„Muss nicht sein“, sagt sie mit gespielter Gelassenheit.
„Nicht? Schade. Aber die Geschichte wirst du dir trotzdem anhören. Also der Junge trieb es jeden Tag mit seiner Schwester…Immer noch keine Erinnerung? Das kannst du doch nicht vergessen haben. In allen Einzelheiten hab ich dir erzählt, wie sie sich wehrte und wie ein Schweinchen quiekte und wie meine Mutter nebenan auf dem Sofa vor dem Fernseher lag und glaubte, wir hätten Streit unter Kindern.“
Kotzbrocken, denkt sie, einer von diesen Kotzbrocken. Fette Mutter, geiler Freier, der sich über die Kinder hermacht.
„War ein großer Fehler, dass ihr mich rausgeschmissen habt“, fährt er fort. „Danach kam erst Recht die Hölle. Ja, hör dir das ruhig an. Knast, wenn du verstehst, was das bedeutet. Aber ihr könnt euch ja gar nicht vorstellen, was da los ist.“
„Jugendstrafvollzug?“, fragt sie.
„Gott sei Dank nicht sehr lange. Nach einem halben Jahr kam ich raus, gute Führung.“
„Respekt, und dann?“
"Betreute Wohngruppe, Arbeit in der Stadtgärtnerei. Mein Ding. Die Arbeit draußen in den Grünanlagen war genau das Richtige. Den Job mache ich immer noch und komme damit gut über die Runden.“
Sie spürt, wie der Druck in der Magengegend allmählich nachlässt. Aber ihre Hände sind noch eiskalt. Sie legt die Finger ineinander und bewegt sie in den Handflächen. Verstohlen schaut sie zum Türhebel.
„Du kannst dir sogar ein Auto leisten.“
„Und eine kleine Wohnung, nur ein paar Straßen entfernt vom Havanna. Sagt dir doch was. Heute Abend warst du ja mal wieder dort. Ich saß an der Bar, ganz in deiner Nähe, unter dem großen Bild in der Ecke. Hemingway auf Kuba, steht darunter. Du hast vor deinem Cocktail gesessen, allein, und schautest immer wieder zu diesem Mann mit dem großen Fisch. An mir vorbei. Der Alte hat es dir wohl angetan.“
„Warum hast du mich nicht angesprochen?“
„Hab mich nicht getraut. Konnte ich denn wissen, dass das inzwischen so einfach ist mit dir? Du bist gar nicht mehr so. Damals warst du echt krass drauf. Wie du dich immer aufgespielt hast! Voll die Harte. Aber vergessen wir das. Machst du die Arbeit noch?“
Sie zieht die Augenbrauen hoch.
„Keinen Bock mehr gehabt auf die Scheiße, was? Recht hast du. Viel zu stressig mit den Verbrechern.“
Sie klopft ihm leicht auf den Arm.
„Und du? Erwachsen bis du geworden, ein Mann sozusagen.“
„Siehst du? Hättet ihr Klapsenleute mir gar nicht zugetraut.“
Minenfeld, denkt sie, aufpassen. Doch irgendwie muss sie den Bogen kriegen. Sie tastet sich weiter.
„Ist was dran“, sagt sie. „Hast Fortschritte gemacht in den Jahren. An einem Punkt hapert’s noch.“
Überleg dir gut, was du sagst, Kirsten“, droht er.
„Also, ich denke mir, du wünschst dir jemanden an deiner Seite.“
Er nickt.
„Jemanden, mit dem du reden könntest.“
„Stimmt. Manchmal träume ich sogar von einer richtigen Familie mit Kindern. Nicht so kaputt wie unsere damals. Mit der ganzen Sippe will ich nix mehr zu tun haben. Am Arsch vorbei geht mir das alles. Alles, verstehst du?“ 
„Klar. Umso wichtiger ist für dich ein Freund oder eine Freundin.“
„Da hast du was gesagt, Kirsten.“
„Und weißt du“, sagt sie vorsichtig abwägend, „wenn man ernsthaft mit jemandem ins Gespräch kommen will, mit einer Frau zum Beispiel, dann schafft man es auch. Die Frage ist nur: Wie nimmt man am besten Kontakt auf?“
„Du willst Streit, gib’s zu.“
Wie ein Pfeil trifft sie sein Blick.
Sie hält das durch und redet ganz ruhig weiter.
„Frauen sind gar nicht so emanzipiert, wie sie immer tun. Sie suchen die Nähe von Männern. Doch sie wollen nicht bedrängt werden.“
„Bedrängt? Bedräng ich dich?“

 

 

 
     
     
     

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