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Leseprobe:

 

Renate Hupfeld

  Nein, so konnte sie nicht weiter leben, das müsste der Vater einsehen. Woher sollte er wissen, wie es ihr ergangen war in der Stadt? Tag und Nacht diesen kränklichen Buben hüten. Er jammerte ständig und wich nicht von ihrer Seite, keinen Schritt konnte sie ohne ihn tun. Auf ihrem Strohsack neben seinem Bett bekam sie kaum Schlaf und hatte viele Nächte lang geweint. Heim wollte sie, schon seit Wochen konnte sie an nichts anderes mehr denken, nichts als heim.

Als Apollonia die hohen Stadtmauern verließ, lag vor ihr die weite Ebene und in der Ferne ihr Dorf, dessen grüner Kirchturm schon zu sehen war. Ihre Habseligkeiten trug sie im Leinentuch über der Schulter. Das Bündel war nicht schwer, ein Sonntagsrock, ein wollener Umhang für kühlere Tage und eine Haarspange hatte sie darin. In den Bäumen rechts und links des Pfades sangen die Vögel fröhlicher als in engen Gassen der Stadt. Hier roch es nach Erde wie in den Eichenwäldern, in denen sie noch im vergangenen Sommer vom Sonnenaufgang bis zum Abendläuten die Schafe ihres Vaters gehütet hatte.

Jetzt gab es keine Schafe mehr. Nachdem in jenem Jahr bis in den Mai Schnee auf der Saat gelegen hatte, mussten sie den Gürtel noch enger schnallen. Und auch dieser Sommer brachte keine Ernte. Die Pferde und Jagdhunde des Herzogs und seines Gefolges waren über die Felder geprescht, hatten die Frucht zertreten, mit einem Schlag die mühevolle Arbeit des Frühjahrs zunichte gemacht.

An all das musste sie denken und je näher sie dem armseligen Häuschen am Rande des Dorfes kam, desto langsamer wurden ihre Schritte. Was würden sie daheim sagen?

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  Renate Hupfeld liest die Geschichte „Fliegen“ beim Literaturcafé der Autorengruppe abiszett (www.abiszett-hamm.de) in der Stadtbücherei Hamm in der Ostenallee.

Dezember 2004