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Markus
Renate Hupfeld
Die Narbe unter
meinem rechten Auge sieht man kaum, eine feine Linie, meistens vom
Brillenrand verdeckt. Doch nicht einmal, wenn ich Kontaktlinsen trage,
fällt sie jemandem auf und mir selbst nur, wenn ich mich im Spiegel
anschaue und ganz genau hinsehe. Dann werde ich jedes Mal an Markus
erinnert und daran, wie ich ihn zum ersten Mal hörte, ja, hörte. Da
waren zunächst seine Springerstiefel, in denen er mit lautem Stakkato im
Schulflur sein Kommen ankündigte. Von einer Erzieherin wurde er in
meinen Klassenraum geschoben, ein zwölfjähriger Junge mit lilaroter
Irokesenfrisur, links und rechts neben dem gezackten Haarstreifen fein
säuberlich rasiert, schwarze Lederjacke mit üppigem Schnickschnack in
Silber, enge Jeans. Sein Gesicht war das eines Kindes, ein bisschen
blaue Augen, ein bisschen verschmitzt, ein bisschen frech, ein bisschen
aggressiv, ein bisschen lieb, eigentlich sympathisch. Ja, ich mochte ihn
sofort.
„Wo soll Markus sich hinsetzen?“, fragte die Erzieherin.
Ich wies ihm einen der sieben Tische zu. Mehr hatte mein Klassenraum
nicht, denn von diesen kleinen Powertypen brauchte jeder Abstand vom
anderen und selbst das reichte nicht aus, um sie von ihren ständigen
Störungen, Rangeleien und Prügeleien abzuhalten. Gott sei Dank waren im
Moment nur drei Jungen anwesend und noch mal Gott sei Dank gehörten die
zu den eher zurückhaltenden. Vom Vorgespräch wusste ich, dass Markus
besonders schwierig und daher in keiner Schule tragbar war. Selbst die
Einrichtung für Erziehungshilfe hatte keinen Plan für ihn. Nun war er im
Heim für schwer erziehbare Jungen gelandet und somit bei mir.
„Schau mal, das machen wir gerade“, sagte ich und legte ihm das
Arbeitsblatt mit einem Lückentext hin.
„Das zieh ich mir nicht rein“, schimpfte er und fegte mit dem Ellenbogen
das Blatt Papier vom Tisch.
Immerhin schaffte ich es in den nächsten Tagen, ihn täglich einige
Wörter einsetzen und ein paar einfache Rechenaufgaben, wie addieren und
multiplizieren im Zahlenbereich bis 100, bearbeiten zu lassen. Doch
einen ganzen Schulvormittag hielt er nicht durch. Täglich musste ich ihn
vom Erzieher abholen lassen, was natürlich auf Dauer auch keine Lösung
sein konnte, zumal es im Wohnbereich wegen seiner Wutausbrüche ständig
Ärger gab. Da flogen Tische und Stühle durch die Räume und
Fensterscheiben gingen zu Bruch. Und das schlimmste Problem war, dass
Markus dazu tendierte, auf Wanderschaft zu gehen. Dann übernachtete er
unter Kanalbrücken, wurde von der Polizei gesucht und konnte, wenn alles
gut ging, danach irgendwo in einer Jugendschutzstelle wieder abgeholt
werden.
In der Schule lief es noch am besten mit ihm. Er kam gerne, legte sich
nicht mit Mitschülern an, war zu mir stets freundlich, arbeitete jedoch
nur soviel, wie er wollte. Da war Geduld gefragt und gute Argumente
gegenüber den anderen Jungen, die natürlich nicht einsahen, warum ihr
neuer Mitschüler eine Sonderrolle in der Klasse spielte. Andererseits
legten sie sich auch nicht mit ihm an, denn wenn einer mal moserte,
sprang Markus auf und brüllte ihm ein ‚Halt’s Maul!’ entgegen.
Ja, das Unterrichten war nicht einfach, musste ich doch ständig
versuchen, Eskalationen zu verhindern. Den wenigsten Stress gab es im
Filmraum beim Schauen von Leo Lionnis „Frederick“ und den Abenteuern des
kleinen Maulwurfs, über die Markus immer herzlich lachen musste. Auch
auf dem Fußballplatz hatte er seinen Spaß und in der Turnhalle konnte er
sich richtig austoben.
„Schau mal“, schrie er eines Tages von der Hallendecke, die er flink wie
ein Eichhörnchen mit Hilfe des Klettertaues erreicht hatte. In dem
Moment wurde mir doch ein bisschen mulmig. Das ging mir entschieden zu
weit.
„Komm sofort herunter“, rief ich.
„Hey, Fiedeli“, so nannte er mich manchmal in Anlehnung an meinen
Nachnamen Fiedler und hing mir plötzlich wie ein Klammeräffchen an der
Hüfte. „Weißt du was? Ich werde Stuntman.“
Das war noch einmal gut gegangen.
Richtig schwierig in der Schule wurde es von dem Zeitpunkt an, seitdem
die Wohngruppe immer abgeschlossen wurde und er nicht mehr abhauen
konnte. Da nutzte er ein paar Mal die Möglichkeit der offenen Klassentür
und verließ unerlaubt meinen Unterricht. Nach wiederholten fiesen
Rüffeln des Heimleiters, der sich seinerseits mit Beschwerden aus der
Nachbarschaft über Schäden in Vorgärten herumschlagen musste, blieb mir
nichts anderes übrig, als den Klassenraum abzuschließen, wenn Markus
anwesend war. Das ging eine Weile gut.
Doch eines Morgens kam er hereingestürmt, schmiss sich auf seinen Stuhl,
zog die Lederjacke nicht wie gewohnt aus und schleuderte das
Arbeitsblatt in den Raum. Nachdem ich abgeschlossen hatte, rannte er zur
Tür, trat mit seinen Springerstiefeln mit voller Wucht dagegen und
tobte: „Mach die Schoppen auf, sonst mach ich sie auf, aber auf meine
Weise.“
„Du haust nicht ab“, sagte ich, ging auf ihn zu und fasste ihn am Arm.
In dem Moment knallte er zurück und landete mit dem Hinterkopf in meinem
Gesicht. Ich war wie gelähmt, der Schreck steckte mir in allen Gliedern.
Markus starrte mich an.
„Das muss genäht werden“, sagte er.
„Meinst du?“
Mit zitternden Händen schloss ich die Tür auf, ging zum Kollegen in den
Raum nebenan und bat ihn, mich zu vertreten. Der jedoch gab im
Sekretariat Bescheid, brachte mich zu einem Arzt und wartete, bis ich
mit Pflaster auf genähter Platzwunde aus dem Behandlungszimmer kam. Er
wollte mich nach Hause fahren, doch es zog mich in die Schule.
Im Klassenraum war ein Schüler übrig geblieben. Markus hockte auf seinem
Stuhl, über dessen Lehne die schwarze Lederjacke hing. Sein Kopf mit den
lilaroten Haarzacken lag über den verschränkten Armen auf dem Tisch. Als
er mich bemerkte, kam er auf mich zu und schaute auf das Pflaster in
meinem Gesicht.
„Das wollte ich nicht.“
„Ich weiß.“
„Und ich hab doch auch ’ne Beule, hier.“ Er nahm meine Hand und führte
sie an seinen Hinterkopf.
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