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Viaggio in Calabria  

 

 

Am frühen Nachmittag landet die Alitalia Maschine in Lamezia Terme. Nun war die Reise doch möglich. In den vergangenen Tagen gab es Nachrichten von Herbstunwettern und Schlammlawinen in Kalabrien. Bilder von unpassierbaren Straßen und zerstörten Campingwagen ließen Vorfreude nicht aufkommen. Dazu kommt, dass eigentlich ein gemeinsamer Aufenthalt mit meiner Schwester Claudia geplant war.

Mein Blick schweift über ein schönes Bergpanorama. Hier ist also die Heimat von Francesco, seit einigen Monaten mit Claudia verheiratet. Meine kleine Schwester. Immer schon zog es sie nach Italien. Dort machte sie ihre Urlaube. Im Gegensatz zu mir spricht sie italienisch. Jetzt hat sie sogar Schwiegereltern in Süditalien.

„Paul, ich muss dir unbedingt Francescos Eltern vorstellen.“, hatte sie gesagt. „Dann wirst du sehen, dass die meisten Leute ganz falsche Vorstellungen von Süditalien haben.“

Ja, jetzt bin ich ohne sie hier. Ausgerechnet in dieser Woche muss sie eine Kollegin auf einer Tagung Hamburg vertreten.

„Dann fliegst du eben alleine nach Süditalien“, meinte sie. So einfach ist das in ihren Augen.

Und gleich heute Abend geht’s los. Ich bin bei Francescos Eltern zum Essen eingeladen. Wie sollen wir uns verständigen? Soll ich mit Roberta und Antonio am Tisch sitzen und schweigen? Peinlich. Ach, ich lass es einfach mal auf mich zukommen, aber wohl ist mir nicht bei der ganzen Sache.

Am Steuer eines metallicgrünen Fiat Punto verlasse ich das Gelände des kleinen Flughafens. Auf dem Beifahrersitz Francescos Wegbeschreibung und eine Straßenkarte. Ich fahre durch sanfte Hügellandschaft Richtung Catanzaro. Vereinzelt kleine Orte. Hier und da ein verfallenes Gebäude oder ein nicht zu Ende gebautes Haus. Mafia, denke ich. An Berghängen tiefe Erosionsrinnen. Ich bin gespannt, was mich in Le Castella erwartet. Ein Straßenstück in der Apartmentanlage sei nach tagelangen Regenfällen mit Schlamm aus den Bergen bedeckt. Keine gute Zeit für einen Aufenthalt. Auf der Küstenstraße Richtung Crotone kriege ich ein paar Impressionen vom Jonischen Meer.

Inzwischen regnet es ziemlich stark. Nach einer knappen Stunde Fahrt habe ich die Anlage erreicht. Ein Mann kommt aus dem kleinen Office an der Einfahrt. Versteht weder deutsch noch englisch. Ich versuche ihm zu erklären, dass ich erwartet werde. Er öffnet die Schranke. Ich soll auf dem Parkplatz warten. Er telefoniert. Nach einiger Zeit kommt ein Auto die Straße hoch. Eine junge Frau springt heraus. Das muss Francescos Schwester sein. Von Fotos kenne ich sie. So attraktiv hatte ich sie mir nicht vorgestellt.

„Hi, Paolo. I’m Chiara.“

Sie begrüßt mich, als kenne sie mich schon lange. Paolo, nennt sie mich. Auch gut. Hört sich irgendwie besser an, als Paul. Und sie spricht englisch. Das ist eine echte Überraschung.

“Follow me,” sagt sie und steigt in ihr Auto.

Die kalabrische Welt sieht plötzlich ein wenig heller aus als vorher. Ich eile in meinen Punto und fahre hinter ihr her. Dicker Schlamm auf der Straße stoppt unsere Fahrt. Ein Teil ist zur Seite geschoben und bildet einen großen Schlammberg.

 „Fango“, sagt Chiara.

Jetzt weiß ich, woher der Ausdruck Fangopackung kommt. Wir gehen einen schmalen Weg zwischen Häusern, um die Schlammstücke zu umgehen. Dann kommen wir zu einem Innenhof. Chiara bringt mich in die kleine Wohnung, die Francesco und Claudia im Sommer gekauft haben. In zwei Stunden wird sie mich abholen und mit mir zu ihren Eltern gehen. Das heißt, sie wird beim Essen dabei sein. Damit geht’s mir schon viel besser. Auf dem Tisch liegt ein Buch ‚Viaggio in Calabria’. Ein Reiseführer mit italienischen und deutschen Texten. Diese Lektüre werde ich mir heute Abend im Bett vornehmen.

Nach dem Duschen und Rasieren schaue ich mir die Umgebung an. Zum Strand ist es nur ein kurzer Weg durch ein Pinienwäldchen. Das Jonische Meer sieht anders aus, als auf den Postkarten, die Claudia immer schickt, wenn sie im Sommer hier Urlaub macht. Kein bisschen blau. Brandet stark und ist aufgewühlt. Die Spuren zeigen mir, wie es in den vergangenen Tagen getobt haben muss. Haufen von braunem Tang, dazwischen Holzstücke, Plastikflaschen und anderer angeschwemmter Müll. Die Wellen müssen den ganzen Strand überspült haben. Graue Wolken ziehen schnell. Zwei Männer sind auf einem kleinen Motorboot ungefähr hundert Meter vom Strand entfernt beschäftigt. Sie ziehen ein Fischernetz ins Boot. Ein älterer Mann mit Hund kommt an mir vorbei. Warum schaut er mich so an? 

Roberta und Antonio begrüßen mich mit großer Herzlichkeit. „Mio fratello“, sagt Antonio und stellt mir seinen Bruder Mario und dessen Frau Elena vor. Auf dem Tisch stehen marinierte Auberginen, Oliven und Pepperoni. Dazu hartes Weißbrot mit kleingeschnittenen Tomaten, gewürzt mit Basilikum und Knoblauch. Salute mit Wein aus Ciro, Malena rosato. Auf meinen Aufenthalt in Kalabrien. Wie ich den heutigen Tag erlebt habe, wollen sie wissen. Was ich mir unbedingt ansehen muss. Ein Schwall Wärme kommt zu mir herüber. Eine Platte scharfe kalabrische Salami wird herumgereicht. Dann Melonenstücke und Schinken. Der “Pasta Gang”, Rigatone al dente mit Tomatensoße und geriebenem Pecorino. Eine Diskussion kommt auf. Ich schaue immer wieder zu Chiara, meine Übersetzerin. Salz dazugeben oder nicht. Mario meint, anstatt Salz soll man besser Käse nehmen. Alle achten darauf, dass mein Teller nie leer ist. Roberta sitzt in Küchennähe, damit sie immer die neuen Köstlichkeiten holen kann. Chiara sammelt Teller ein, verteilt neue und stellt eine Schüssel Salat auf den Tisch. Essig, scharf oder weniger scharf, wird diskutiert. Kalabrische Leute reden immer nur vom Essen, meint Chiara. Dünn geschnittene Fleischscheiben mit Tunfischsoße. Plötzlich unterhalten sich alle ziemlich laut und aufgeregt. Ich weiß gar nicht, was abgeht. Später erfahre ich, dass es um die Erosionsschäden nach den vielen Regenfällen geht. Dann werden wieder die Teller abgeräumt und noch mal Teller verteilt. Als Dessert gibt es kleine kalabrische Kuchen in allen Variationen, muffinähnlich mit leckeren Füllungen, Obsttörtchen und Windbeutel mit Sahne. Danach  Espresso mit oder ohne Zucker und Sahne. Zufrieden sinke ich gegen Mitternacht ins Bett. „Viaggio in Calabria“. Dann lese ich, in der Art und Weise, wie sich die Kalabreser ernähren, sei etwas Heiliges und Antikes. Vielleicht die griechischen Wurzeln. Vor fast drei Jahrtausenden kamen sie mit Schiffen in diese Gegend am Jonischen Meer und gründeten Städte.

Am nächsten Tag hat sich das Wetter etwas gebessert, es regnet nur noch ab und zu. Gegen Mittag bin ich mich Chiara verabredet. Wir treffen uns an der Aragoneser Trutzburg in Le Castella. Mitte des sechzehnten Jahrhunderts als Verteidigung gegen türkische Überfälle inselartig ins Meer gebaut. Sie wird zur Zeit renoviert. Ich warte in der Bar an der Ecke und trinke noch einen Cappuccino.

Lächelnd kommt Chiara auf mich zu und begrüßt mich mit einem Kuss auf jede Wange. Sie riecht gut. Und sie sieht gut aus. Das enge T-Shirt steht ihr gut. Läuft ja alles super, denke ich. Mit meinem Punto fahren wir zum Capo Colonna. Es sind nur wenige Kilometer bis zu dem archäologischen Gebiet aus der “Magna Grecia”. Eine verlassen wirkende dorische Säule überragt die Mauerreste und scheint aufs Meer hinauszuschauen. Sätze in englischer Sprache fliegen zwischen Chiara und mir hin und her. Die Säule ist Überbleibsel eines Tempels zu Ehren der Göttin Hera. Von ursprünglich sechs ist sie übrig geblieben. Wir gehen um die uralten Mauern herum. So eigenartig diagonal angelegte Steine wie hier hab ich noch nirgends vorher gesehen. Diese Ruinen sind übriggeblieben von einer griechischen Ansiedlung, 2500 Jahre alt, erklärt mir Chiara. Wir haben einen schönen Ausblick auf das Meer. In der nahegelegenen Stadt Crotone haben ein halbes Jahrhundert vor Christus der berühmte Pythagoras sowie viele andere berühmte griechische Wissenschaftler und Künstler gelebt und gelehrt. Vielleicht war diese Region seinerzeit der Mittelpunkt Europas. Rom soll noch ein Schäferdorf gewesen sein. Die einsame Säule zieht immer wieder meinen Blick an. Schön mit Chiara hier zu bummeln. Sie ist stolz auf diese Region. Vielleicht hat sie ja griechische Vorfahren. Ich schaue sie lange an. Ihr ebenmäßiges Profil war mir bisher nicht aufgefallen. Ich stelle mir vor, wie sie hier am Wasserrand entlang geht und ihren Kindern ein Lied singt. Das Lied ihrer Kindheit am Jonischen Meer. Eine kalabrische Geschichte. 

Später schaue ich mir im Buch noch mal die einsame Säule und die diagonal angelegten Mauerreste am Capo Colonna an.

Das Gewitter der vergangenen Nacht ist im blaugrünen Meer verschwunden. Verschluckt vom unendlichen Horizont. Schnurgerade dunkelblaue Linie. Strahlend blauer Himmel und leichter Wind. Leise rollt die Brandung kleine Sandkörnchen. Das Meer ist ein Künstler, zaubert immer wieder neue Bilder und Farben. Ich sitze im warmen Sand und kann mich nicht satt sehen. Keine Welle sieht aus wie eine andere. Kein Strand bleibt so zurück wie er war, bevor die Brandung über ihn hinwegrollte. Eine Möwe. Sie freut sich über die klare Sicht, bewegt sich nah über dem Wasser. Nach einer Weile sticht sie mit dem Schnabel ein und segelt triumphierend an mir vorbei. Sogar Schmetterlinge gaukeln herum, angezogen vom Glitzern auf den Wellen. Der ältere Mann ist auch wieder am Strand. Freundlich grüßt er mich. Sein Hund läuft hinter ihm. Mit Ringelschwanz sieht er aus wie ein kleines Schweinchen. Hat aber ein liebes Gesicht und hört gut. Einige hundert Meter entfernt sitzt eine junge Frau unter einem Sonnenschirm. Sie sind außer mir die einzigen Menschen an diesem langen Strand. Langsam gehe ich auf die junge Frau zu. Sie scheint versunken in ihrem Buch. Ist es Chiara? Ich möchte schneller laufen. Mein Herz klopft bis zum Hals.

©Renate Hupfeld 04/2003